Henryk Goldberg würdigt ein ehrwürdiges Kommunikationsmittel.

Also, ich brauch ja keine Quote. Ich meine, meine beiden Kinder sind streng quotiert, sex-und gendermäßig, die der Dame auch. Auch in der Ehe sind wir streng paritätisch, aber das soll jetzt kein Dogma sein. Trotzdem bleibt da einiges zu tun, und trotzdem, trotz des Weimarer Urteils, wird da noch einiges getan werden.

Die Freudenschüsse werden den Jubilierenden noch in den Ohren schmerzen, sie können nur noch Schlachten gewinnen, der Krieg ist verloren. Die Gesetze werden künftig den Verfassungen angepasst, oder umgekehrt. Es war ein Testlauf, und der Sinn von Testen besteht darin, das System zu verbessern. Otto Lilienthal ist auch abgestürzt, das war vor 124 Jahren.

Ein anderes System, das vor 150 Jahren getestet wurde, ist digital auch stark verbessert, aber nicht verschönert worden: die analoge Ansichtskarte.

August Schwarz schickte am 16. Juli 1870 eine mit einem Bildchen versehene „Correspondenzkarte“ nach Magdeburg, das kleine Bild, es war wenige Tage vor Kriegsbeginn, zeigte eine Kanone, der handgeschriebene Text sang vom „wilden Kriegsgetümmel“ .

Später war auf diesen Karten mehr vom Getümmel am kalten Buffet und am heißen Strand die Rede. Dass selten von mehr die Rede war, von Intimerem als Essen und Trinken, Sonne und Regen, liegt wohl auch daran, dass dieses altehrwürdige Kommunikationsinstrument in einem seinen späteren, digitalen Nachfolgern gleicht: Jeder kann mitlesen.

Gut, nicht jeder,. Damals war es nur der Postbote, heute weiß man nicht so genau, wer einem alles über die Festplatte schaut. Dafür waren die Leute früher prüder als wir Aufgeklärten, da hätte niemand eine Politikerin öffentlich „Drecks-Fotze“ genannt, so verklemmt waren die.

Und sentimental waren sie auch, sie neigten dazu, manche dieser Karten in Kisten und Kasten aufzubewahren, wo Kinder und Enkel sie fanden. Deshalb sind solche alten Bilder und Grüße, deren Absender und Adressaten auf den Friedhöfen liegen, auch Nachricht an die Nachgeborenen.

Nachricht über die Stadt, in der wir heute leben, und die Kriege, die wir damals nicht überleben mussten.

Die Älteren unter uns schreiben wohl gelegentlich noch solche Karten, auch ich, aus dem Urlaub.

Auch da, jetzt schließt sich der etwas unrunde Kreis, auch da also habe ich eine erstklassige Quote: Ich schreibe nur Frauen: Mutter, Schwester, Tochter, einer alten Freundin. Bis vor einigen Jahren noch einem alten Freund, aber der hat auf seine alten Tage neue Kriterien für Freundschaft entwickelt.

Diese Karten sind immer auch eine Art von Stress.

Das beginnt mit der Auswahl der Motive, es soll ja passen für jede. Die eine bekommt etwas Lustiges mit einem Mann, die andere mit einer Frau, bei den anderen geht es um den Ort.

Und dann das Schreiben! Ich schiebe das vor mir her bis zum letzten Tag, auch, aber nicht nur, weil das Erzeugen eines halbwegs lesbaren Schriftbildes für mich, im Ernst, Anstrengung und Konzentration erfordert.

Und dann der Inhalt. Meiner Schwester kann ich schreiben, das Wetter sei gut, das Essen dito und überhaupt alles Gute, vor allem Gesundheit, die versteht das.

Ihr Briefträger, wenn er das lesen kann, denkt vermutlich, das sei ein Enkelkind der Empfängerin, das zu faul ist oder zu blöd, um sich paar nette Sätze für die Oma zu überlegen.

Na, was will man erwarten bei dieser Generation, die sonst nur noch im Netz hängt. Und mit dem Netz, denkt er vielleicht noch, kennt sich die Oma wohl nicht so aus. Das ist die Stelle, an der ich fröhlich grinsen muss.

Bei einer anderen Karte konnte ich nicht grinsen, im Gegenteil. Ich fand sie dieser Tage zufällig beim Kramen in alten Sachen. Auf der Vorderseite gibt es, schwarz-weiß, eine Ansicht von Singen am Hohentwiel, eine Stadt, die sich bei näherer Betrachtung als nicht halb so toll erwies wie aus der Ferne. Auf der Rückseite steht „Herzliche Grüße aus Deiner Heimat“, - und die Adressatin ist „Fräulein Anni Wiggenhauser“.

Die Karte ist nicht datiert, aber vermutlich war „Fräulein Wiggenhauser“ da schon mein Fräulein Mutter oder traf doch Anstalten, es zu werden.

Dieser Montag wird ihr erster Geburtstag sein ohne sie.