Henryk Goldberg über einige Aspekte der ludologischen Wissenschaft.

Ein richtiger, ein guter, ein aufrechter Journalist, nicht wahr, der läuft nicht dem Mainstream hinterher. Der macht sich, wie uns Hanns Joachim Friedrichs hinterließ, mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten. Und deshalb will ich hier dem Kollegen K. Respekt erweisen. Denn der polemisierte vor einer Woche scharf, sehr scharf, gegen Millionen Bürger dieses Landes.

Ich wurde hier schon von Lesern gescholten, weil ich relativ unsensibel mitteilte, was ich von den Herren Höcke, Brandner, Möller und dieser ganzen Plage halte, das sei doch eine Arroganz gegenüber deren Wählern. Mag sein, denke ich, und: Na und? Aber jetzt der erwähnte Kollege, der haut voll drauf, mitten in den Familienfrieden, auf Millionen Tische. Denn er findet Mensch ärger dich nicht doof. Sie wissen schon, dieses Spiel, dessen kognitive Herausforderung darin besteht, bis sechs zählen zu können.

Ich verstehe sehr gut, was er meint, kann den Kollegen aber nur mit Radio Jerewan entgegnen: Im Prinzip ja, aber…

...aber Mensch ärger dich nicht ist das einzige Brettspiel, das zu spielen ich bereit und fähig bin. Wenigstens wenn die Situation so ist, dass sich ein Spiel gar nicht vermeiden lässt.

Denn dieses Ding mit dem Würfel hat einen unschätzbaren Vorteil, wenigstens für mich: Es ist so blöd, so einfach, dass man nicht denken muss dabei, wenigstens nicht an das Spiel.

Als mein sonst sehr wohlgelittener Neffe M. vor etlichen Jahren sein Studium erfolgreich zu Ende gebracht hatte, da schenkte er seinem Onkel zu einem familiären Anlass solch ein Spiel, es war sauteuer.

Ich bedankte mich sehr herzlich, es war ja gut gemeint, die Geste gefiel mir, das Spiel nicht. Aber es half ja nun nichts, ein lieber Neffe ist ein lieber Neffe, und wir spielten das Spiel den ganzen langen Abend lang. Einen ganzen langen Abend lang konzentriert über etwas nachdenken, das mich so interessiert, wie, sagen wir, das Bild des Eisbären in der grönländischen Lyrik, die Favoriten für die nächste deutsche Meisterschaft im Synchronschwimmen.

Es war wohl, weil ich das berühmte Diktum – nicht für die Schule, für das Leben lernen wir –, früh verstanden hatte, dass ich in der Schule eine gewisse Fertigkeit darin entwickelte, Überlegungen und Tätigkeiten, die mich langweilen, zu vermeiden. Das war ein Umstand, der meinen Eltern mehr zu schaffen machte als mir.

Im Gefolge dieses mangelhaft ausgeprägten Interesses fürs Schulische war ich dann Bühnen­arbeiter.

Da saß ich manchmal, wenn sie oben spielten, unten mit den Kollegen in der Kantine. Die Kollegen tranken mäßig Bier und spielten unmäßig Skat. Irgendwann wollte ich wissen, woher sie diese komischen Zahlen nehmen und ließ es mir erklären. Ich habe es theoretisch begriffen und praktisch nie angewandt.

Ich hätte das Spiel konzentriert verfolgen und meine Schlüsse daraus ziehen müssen. Vielleicht habe ich auch deshalb oft oben in der Gasse gestanden und zugeschaut, das Spiel auf der Bühne fand ich interessanter.

Das einzige Spiel, dem ich mich, außer familienpolitisch veranlasstem Mensch ärger dich nicht, je mit einer gewissen Anteilnahme widmen konnte, das war Canasta mit meiner Mutter, die, wer es kennt, rote und die schwarze Drei, den fetten Stoß absahnen, und seit einem Jahr denke ich manchmal, wir haben wenigstens ein Spiel zu wenig gespielt.

Nicht weniger schlimm sind die sog. Gesellschaftsspiele. Ich mag auf einer Party nicht spekulieren, was für eine Musik die Dame des Hauses wäre, wenn sie eine Musik wäre. Große Oper, kleine Nachtmusik? Vor sehr, sehr langer Zeit war ich bei so einer Veranstaltung, eine andere Frau sollte meine Begleiterin in Musik übersetzen. Sie wählte Operette, ich verstand und es gefiel mir nicht.

Und nun habe ich gelesen, das Institut für Ludologie will das Spiel, mit und ohne Brett, zum immateriellen Weltkulturerbe nobilitieren lassen. Sollen sie, ich gönne den Kollegen in Altenburg ihre triumphalen Beiträge.

Ich sehe derweil um uns herum in dieser Zeit ein anderes Stück Weltkulturerbe am Wirken, ein Erbe, das wir nicht ausschlagen können: das Brett vorm Kopf. Derzeit bei etwa 23 Prozent der Thüringer.