Henryk Goldberg über die Frage, was Menschen erinnern.

Also, ich weiß ja nicht. Ich meine, ich weiß nicht mehr, was in meiner Zuckertüte war. Ich weiß überhaupt fast nichts mehr von diesem Tag. Ich erinnere nur eine Situation bei Frankenhäuser, so hieß der Laden an der Ecke. Allerdings ist das eine frühe Erinnerung von jener Art, die sich so anfühlt wie ein zerfließendes Wolkenbild, unkonkret, unsicher und schwer zu fassen. Bei Frankenhäuser also, wir mussten da vorbei auf dem Weg in die Theo-Neubauer-Schule, da hockte, wenn die Erinnerung nicht gaukelt, eine alte Frau. Und meine Eltern drückten mir wohl eine Münze in die Hand, die sollte ich ihr geben. Vielleicht, dass sie hofften, die gute Tat würde mein künftiges Schicksal ins Gute leiten.

Ich weiß nicht, ob das wirklich so war, aber mein Gedächtnis hat es so aufgezeichnet. Dieser Tage sprach mich ein fremder Mann in der Stadt an, „Hallo Henryk“, und wir seien zusammen in der ersten Klasse gewesen. Ich erinnere weder an ihn noch andere der damaligen Mitschüler, nur die gütige Frau Schmidt. Anderen geht es anders, die Dame jedenfalls sagt, sie erinnere sich gut. Wie sie mit schwarzen Lackschuhen und weißen Kniestrümpfen auf dem Schulhof antrat, wie sie später mit ihrem Bruder den Inhalt der Zuckertüte verzehrte.

Mag sein, dass dieses, je nachdem, Erinnern oder Verdrängen von den jeweils nachfolgenden Ereignissen bestimmt wurde. Wenn zutrifft, was ich dieser Tage las, es seien nämlich die Ost-Tüten sechseckig gewesen und die im Westen rund, dann läge darin eine feine Symbolik, schließlich, Schule war mir nie eine runde Sache. Denn der sogenannte Ernst des Lebens war etwas, was ich nie so recht ernst nehmen wollte oder konnte.

Meine Kariere als Schüler war, sagen wir, kein Glücksspender des Lebens, weshalb ich den Abschluss der 10. Klasse nach elf Jahren erreichte, gerade so. Man mag es Konsequenz nennen oder Ignoranz oder Faulheit, dass es mir wohl damals schon schwer wurde, Zeit mit Dingen zu verbringen, die mich langweilen. Also beinahe alles, mit Ausnahme der Deutschstunden, wenn es um Bücher ging, bei Frau Lasar und Erdkunde, wenn es um fremde Länder ging, bei Herrn Stierwald. Geschichte hätte es sein können, aber Herr Vollgold erklärte die Entstehung der Religion, indem er erzählte, wie sich eines Tages ein paar reiche Männer zusammensetzten, um zu überlegen, wie sie noch reicher werden könnten. So erfanden sie einen Gott und machten sich zu seinen Priestern, denen die Menschen Abgaben schuldeten. Irgendwie erschien mir das nicht schlüssig.

Schlüssiger in jeder Hinsicht war dann das Studium. An diesem zweiten ersten Schultag saß ich, nach der Immatrikulation, auf einer Bank vor der Uni und betrachtete voller Glück, wirklich, das Papier, für das ich mich zweieinhalb an der Volkshochschule durch das widerliche Zeug gefressen hatte, den Studentenausweis. Der eine Tag war der Erste einer langen Reihe überwiegend misslicher Tage und Jahre, der andere eröffnete wirklich den Weg in das erträumte Leben.

Woran werden sich wohl die Kinder erinnern, die heute ihren ersten Schultag erleben? Immerhin, die Thüringer Eltern gaben 2016 im bundesweiten Vergleich das meiste Geld aus, um die Zuckertüten zu füllen – und das entspricht keinesfalls ihrem Platz im deutschen Einkommens-Ranking. Überhaupt, so haben Soziologen ermittelt, wird dieses Ereignis im Osten heftiger gefeiert als im Westen, nicht nur im Damals, das sich fortgeschrieben hat. Die positive Erklärung wäre ein engerer Zusammenhang der Familien, die negative die mangelnden Alternativen Geld auszugeben für Autos, Reisen, Häuser.

Und der Stolz der Erfinder. Denn die Zuckertüte, so lese ich voller Zuneigung, sei im Land der Dichter und Denker entwickelt worden, in Thüringen also. Und, nun ja, in Sachsen. Schon aus dem Jahre 1817 existiert ein schriftlicher Beleg für die Zuckertüte in Jena, Dresden und Leipzig folgen später, uff.

In Rostock hat jetzt ein sieben Jahres altes Mädchen an ihrem dritten Schultag eine Erinnerung fürs Leben gestiftet, für sich und ihre Lehrerin. Denn diese wurde von dem Kind so heftig gebissen, dass Polizei und Rettungsdienst gerufen wurden, die Lehrerin kam ins Krankenhaus.

Ich wusste, so wird das Kind später vielleicht resümieren, schon sehr früh, dass man sich in der Schule wie im Leben durchbeißen muss. Es ist nur nicht klar, ob sie das in ihren Memoiren schreiben oder ihrem Richter erzählen wird.