Henryk Goldberg über die Frage, wie ehrlich unsere Kandidaten sind.

Nein, ich gebe hier keine Empfehlung für morgen. Erstens sind Sie erwachsen und wissen selbst, was Ihnen wichtig ist. Zweitens könnte ich das, selbst wenn ich dürfte, nicht mit reinem Herzen und aus voller Brust.

Denn es gäbe zu jeder Wahlempfehlung ein „aber“, es ist also eine Wahl zwischen vielen „abers“, und jeder muss für sich entscheiden, welches er für das Kleinste erachtet. Wobei es in Kommunalwahlen, wenigstens für mich, weniger um Parteien, als um Personen geht, da habe ich meine Wahl schon getroffen, mit meinen Gründen.

Drittens, auch damit hängt meine Wahl zusammen, bin ich bei vielen lokalen Themen unentschlossen. Ist das Ersetzen von 120 Jahre alten Pflastersteinen in einer wunderschönen, viel betagteren Altstadt durch einen behindertengerechten Belag die Zerstörung von Historie oder zeitgerechtes Schaffen von Barrierefreiheit?

Was ist der beste Weg zur Finanzierung des notwendigen Bauens und Sanierens von Schulen? Ich weiß es nicht.

Und viertens gebe ich keine solche Empfehlung, weil ich es nicht darf, so kurz vor der Wahl, da ist die Zeitung parteipolitisch neutral, was im Übrigen gut und richtig ist. Ich darf auch nicht sagen, welche Partei ich unter keinen Umständen wählen würde, obwohl ich das weiß.

Aber sagen darf ich, welche Kandidaturen ich für fragwürdig halte – weil es diese Kandidaten in so gut wie allen Parteien gibt. In allen Parteien, die Oberbürgermeister, Bürgermeister oder Landräte stellen. Denn diese Amtsträger dürfen nicht gleichzeitig gewähltes Mitglied in den entsprechenden Gremien sein, also etwa in Stadträten.

Nun stelle man sich, nur mal als Beispiel, einen Oberbürgermeister vor, der dieses Amt aufgibt, um sein Stadtratsmandat anzutreten. Natürlich, das wird keiner tun. Aber doch sind viele dieser Amtsträger auf den Wahlplakaten zu sehen. Und wenn sie dann gewählt werden – und sie werden natürlich gewählt, denn sie haben ja, sonst wären sie ja nicht Oberbürgermeister oder Landrat, das mehrheitliche Vertrauen ihrer Wähler? Nun, nach der Wahl danken sie den Wählern für das Vertrauen und sagen im Übrigen, dass sie die Wahl nicht annehmen. Und die vielen Stimmen, die sie erhielten? Die gehen natürlich nicht verloren, die werden auf die Liste ihrer Partei übertragen. Und was bedeutet das? Das bedeutet, zum Beispiel, dass ein Kandidat dieser Partei, der weniger Stimmen bekam, nun doch als gewählt gilt, während der mit mehr Stimmen draußen ist.

Und, wie finden Sie das? Ich finde, das ist Beschiss im Rahmen der Gesetze. Denn die Gesetze geben das her.

Keine der je in Thüringen regierenden Parteien war und ist daran interessiert, diese Gesetze zu ändern, obgleich sie es könnten – wenn sie es denn wollten. Aber sie wollen es nicht, denn am Ende profitieren sie alle davon, die einen hier, die anderen da. Und so kommt es, dass selbst Parteien, es gibt sie, wenn auch nur im Singular, zu deren Agenda eigentlich die Abschaffung dieses Betruges gehört, ihre Kandidaten nicht davon abhalten können und wollen, sich an die Spitze zu setzen. Das wäre natürlich ein Wettbewerbsnachteil gegenüber den anderen. Es ist vermutlich wie beim Doping: Wenn ich es nicht tue, habe ich einen Nachteil gegenüber den anderen. Die Parteien wollen diese Praxis gelegentlich mit dem Argument legitimieren, die jeweiligen Spitzenkandidaten benötigten für ihre Politik eine starke Unterstützung in den gewählten Gremien. Natürlich, aber ist das ein Grund, die Leute mit gewinnendem Lächeln zu betrügen?

Nein, das tun sie nicht – sagen sie. Schließlich, heißt es, wüssten die Wähler das. Wissen sie das wirklich? Wenn sie es wissen und also nur die Partei unterstützen wollten, dann könnten sie doch gleich all ihre Stimmen dieser Partei geben? Gewiss, manche Wähler, die Leser dieser Kolumne etwa, werden es tatsächlich wissen, die Parteien aber bauen zuversichtlich auf die, die es nicht wissen. Einige dieser Kandidaten machen sich, wie man so sagt, einen schlanken Fuß, indem sie irgendwo erklären, dass sie die Wahl nicht annehmen werden. Irgendwo. Wenn das die Lösung sein sollte, dann müsste das auf den Plakaten stehen: Ich werde die Wahl nicht annehmen. Aber wer will schon annehmen, dass ein solches Plakat je in Druck ginge. Obwohl, es wäre ein Alleinstellungsmerkmal. Natürlich, Kommunalwahlen sind zu großen Teilen Wahlen von Personen. Aber auf diese Weise missbrauchen Politiker das Vertrauen von Menschen, die ihnen vertraut haben. Aber die Wahl-Scheinheiligen lächeln.