Ein Salon: Henryk Goldberg über schlechtes Timing und richtige Interviews.

Bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher“. So, heißt es, habe Friedrich Hebbel auf die Nachricht reagiert, ihm sei nunmehr der Schiller-Preis zuerkannt worden. Das ist ein Satz, der durch die Zeiten hallt, denn der Dichter lag auf dem Totenbett.

Unter weniger existenziellen Umständen fühle ich mich versucht, ihn heute nachzumurmeln. Denn heute beginnt die Tour de France, für mich allemal das Sportereignis des Jahres.

Andererseits fahren wir am Montag in den Urlaub, und den mag ich, auch aus Gründen des Familienlebens, nicht vor dem Fernseher verbringen.

Zwei hoch willkommene Ereignisse, mit einem ganz schlechten Timing, der Wein und der Becher. Immerhin, die letzte Etappe kann ich dann wieder sehen, Paris, das Finale. Und den Start noch, Nizza. Nizza, Paris? Genau, zwei Risikogebiete. Und jetzt habe ich die Gelegenheit, eine Geburtstagsgabe meiner alten Kollegen vom Feuilleton zu würdigen. Sie schenkten mir nämlich eine Wortpatenschaft, die ist verbunden mit der Auflage, dieses Wort zu ehren und zu nutzen, es heißt „Friedensfahrt“.

Also, auch die Friedensfahrt startete 1986 in einem Risikogebiet, es war in Kiew, das Tschernobyljahr. Für die Medien gab es strenge Auflagen, nicht von „strahlenden Siegern“ zu schwärmen, obgleich Olaf Ludwig diese Tour überstrahlte. Und auch jetzt haben „die Medien“ strenge Auflagen, dieses Mal geht es jedoch nicht darum, die Gefahr zu ignorieren, sondern im Gegenteil.

Hä? Wenigstens weiß das Netz, dass all jene, die so engagiert, mit so markigen Worten um die Freiheit kämpfen, ihre Mitmenschen gefährden. Und alle, alle sind sich einig, dass sie hier nationalen Widerstand leisten gegen ein Komplott, das die Politiker mit der Lügenpresse vereint.

Ist ja logisch, kann man sich ja denken. Die Politik profitiert, ein Jahr vor den Wahlen, davon, wenn es den Leuten und der Wirtschaft schlecht geht, die Medien arbeiten engagiert daran, ihr Anzeigenaufkommen durch eine schlechte Wirtschaftslage zu reduzieren. Kann ja jeder drauf kommen, muss man nur ein bisschen denken, stimmt’s?

Und heute wollten alle, die das begriffen hatten, in Berlin zur Demo. Die wurde verboten – und das ist fatal. Oder doch wenigstens die Begründung des zuständigen Senators ist es. Denn er wolle, hieß es, den Corona-Leugnern, Schulter an Schulter mit, sozusagen, unmaskierten Rechtsextremen, keine Bühne bieten.

Als Gefühl finde ich das sehr begreiflich, als politische Handlungsanweisung sehr falsch. Denn diese Demokratie ist per Definition verpflichtet, beinahe jeder Meinung, ausgenommen Rechtsextremismus, eine Bühne zu bieten, oder ihr diese wenigstens nicht zu verwehren. Das Gericht hat das am Freitag auch so gesehen und das Verbot aufgehoben. Das Gefühl, das einer empfindet und die rationale Bewertung des nämlichen Sachverhaltes können einander gelegentlich widersprechen.

Ein jeder kann und darf für sich entscheiden, wem – Gefühl oder Verstand – er dem Vorzug gibt. Politiker jedoch und viele Institutionen haben diese Wahlfreiheit nicht, sie sind der Verfassung und der Verfasstheit dieses Staatswesens verpflichtet.

Der MDR zum Beispiel. Die Kollegen wurden öffentlich heftig kritisiert und übel beleidigt, weil sie einem Mann, den, wer mag, „Faschist“ nennen darf, eine Bühne boten. Doch wer, wie Björn Höcke, Chef der zweitstärksten Partei im Lande ist, der kann in einer Interview-Reihe nicht ignoriert werden, er mag einem, wie mir zum Beispiel, noch so widerlich erscheinen.

Und im Übrigen hat sich der Moderator Lars Sänger, unter dem Druck deutschlandweiter Beobachtung, hervorragend gegen diesen Widerling behauptet, das wäre wohl einen Journalistenpreis wert.

Und einen Preis wäre auch wert, wüsste jemand, wie man die unkontrollierten Gefühle, das hemmungsfreie Bebrüllen der jeweils anderen etwas einhegen kann, nach dem weitgehenden Verlust von Intelligenz und Schamgefühl. Dass das kaum möglich scheint, macht die Demokratie mitunter etwas schwierig – aber auch da darf das Gefühl nicht obsiegen.

Aber am Montag gibt’s erst mal, trotz Tour, einen automobilen Ortswechsel. Manchmal kann man auch aus der Flasche trinken.