Henryk Goldberg über die Frage, nach wem Straßen heißen dürfen.

Brunhilde hatte zwei Töchter und ein kleines Häuschen. Das stand in Erfurt am Nettelbeck-ufer. Hätte mich damals jemand gefragt, wer wohl dieser Herr Nettelbeck war, vermutlich hätte ich entgegnet „Widerstandskämpfer“. Das war in der DDR die Standardvermutung über unbekannte Namensstifter, nach denen Straßen und Plätze benannt waren.

Das steht wohl für eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dieser Art von Ehrung, wenn sie als Teil einer alles überwölbenden Inszenierung von Öffentlichkeit wahrgenommen wird, die, wenigstens öffentlich, nicht befragbar ist. In diesem Land ist das anders. Kein zentraler Wille, verbunden mit einer als absolut gesetzten Ideologie, dekretiert wer als Namensgeber für Straßen und Plätze in Frage kommt. Jeder Name, den eine Straße trägt, wird mithin von der Kommune verantwortet, die ihr diesen Namen gab oder ließ. Und deshalb ist es durchaus natürlich, wenn in der Zivilgesellschaft nach der Legitimität solcher Namen gefragt wird.

In gewisser Weise wäre meine Antwort damals nicht ganz falsch gewesen. Joachim Nettelbeck (1738-1824) war in der Tat ein Widerstandskämpfer, allerdings nicht gegen die Nazis. Er leistete und befeuerte 1807 den Widerstand gegen die Franzosen, die die damals deutsche Stadt Kolberg belagerten. Durch Berichte und seine Autobiografie machte Nettelbecks Name Karriere als Symbolfigur der Einheit von Bürgern und Staat, von Volk und Macht. Und nicht ohne Grund war er ein Protagonist des letzten großen Filmes in Hitlerdeutschland, Veit Harlan inszenierte „Kolberg“ im Auftrag Goebbels als den letzten schon verzweifelten Appell zum Durchhalten. „Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!“ das war das letzte ideologische Aufgebot im Januar 1945.

Es ist aber nicht diese Benutzbarkeit Nettelbecks, die jetzt in Erfurt den Straßennamen problematisiert. Die Vereine „Decolonize Erfurt“ und „Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland“ weisen nachdrücklich darauf hin, dass der Seemann Nettelbeck mehrfach als Obersteuermann auf Sklavenschiffen fuhr, dass er mehrfach, wenn auch vergeblich, für die Errichtung deutscher Kolonien in Afrika warb. Deshalb könne ein Mann, der aktiv am Sklavenhandel beteiligt war, der der Kolonisierung das Wort redete, nicht Namensstifter einer Straße bleiben. Und schlagen deshalb vor, das „Nettelbeckufer“ umzubenennen in „Gert-Schramm-Ufer“.

Gert Schramm war ein in Erfurt, in eben dieser Straße, geborener Afrodeutscher, der in Witterda aufwuchs und aufgrund seiner Hautfarbe 1944 in das KZ Buchenwald eingeliefert wurde. Diese Zeitung berichtete mehrfach über ihn und sein Buch „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?“

Ich gewiss nicht und trotzdem, auch wenn ich damit in eine Reihe mit Leuten gerate, die mir zutiefst zuwider sind, trotzdem also sehe ich ungern Gert Schramm in einen quasi öffentlichen Wettbewerb mit Joachim Nettelbeck.

Einen Wettbewerb, in dem eine integere, aus politisch und ethisch korrekten Gründen nominierte Persönlichkeit antreten muss gegen eine Bekanntheit, die zwei Jahrhunderte auf ihrer Seite hat.

Nettelbecks Wirken jenseits der Verteidigung Kolbergs ist wohl weithin unbekannt, insofern darf man den beiden Initiativen danken, das thematisiert zu haben. Indessen glaube ich ganz fest, der Umstand, dass ein Mann im 18. Jahrhundert mehrfach am Sklavenhandel beteiligt war und Kolonien forderte, erfordert nicht seinen Ausschluss aus dem öffentlichen Raum der Erinnerung, denn auch das ist der Raum einer Stadt. Straßennamen sind auch so etwas wie die Jahresringe einer Stadt, sie erzählen ihre Geschichte und die des Landes.

Es gibt eine Straße in Erfurt, die hieß bis 1992 nach Wilhelm Pieck und seither nach Stauffenberg, auch so erzählt sich Geschichte. Und von der Hitler-Zeit erzählen, zum Beispiel, die Thälmannstraße und eben die Stauffenbergallee, auch ohne Hitler-Straßen. Man muss eine gewachsene Stadt, so wie ältere Bücher, nicht zum politisch-historischen Cleanroom machen.

Irgendwann wird in Erfurt eine neue Straße zu benennen sein, sie könnte Gert Schramms Namen tragen. Ich freu mich drauf. Auf die nach der möglichen Eliminierung Nettelbecks folgende Revision anderer Straßennamen freue ich mich nicht.