Henryk Goldberg über die Magie der runden Zahlen und einen Hundertjährigen.

Die Feier fällt aus. Natürlich, viele Feiern fallen aus jetzt. Aber diese berührt mich auf eine merkwürdige Weise persönlich, obgleich ich nicht dabei gewesen wäre. Aber andere, die ich ganz gut kenne, wären da gewesen, Ekkehard Kiesewetter, Kalle Krause, Olaf Müller. Denn sie hätten am Montag ihren einstigen Kollegen besucht, um dem Schauspieler Karli Schwarz zu gratulieren, zu einem Geburtstag, der nur wenigen Menschen vergönnt ist.

Karli Schwarz wird an diesem Montag 100 Jahre alt.

Hätte jemand dieses Alter gehabt, als ich damals in Erfurt begann, die Kulissen zu schieben, dann hätte er noch ganz, ganz frühe Erinnerungen haben können an die Jubelfeiern zur Gründung des Deutschen Reiches, dann wäre er zu Beginn des Ersten Weltkrieges bereits zu alt gewesen, um eingezogen zu werden, am Beginn des nächsten wäre er ein Mann von 72 Jahren gewesen.

Karli Schwarz war da 19. Alt genug, um Flugzeugführer eines Bombers zu werden, glücklich genug, mehrere Abschüsse zu überleben – und jung genug, um noch heute davon zu erzählen, wenn ihn jemand fragt.

Damals, als wir Kollegen waren, er Schauspieler, ich Dramaturg, da hat er wohl kaum davon erzählt, kaum einer wusste davon. Er war ein eher schmaler, eher kleiner Mann, einer für die eher kleineren Rollen. Hätte ich davon gewusst, ich hätte ihn bewundert, jenseits meiner Haltung zum Nazi-Krieg, sozusagen unter Jungs, so etwas gibt es.

Schauspieler geben, wie die meisten Menschen, mit allen möglichen Heldentaten an, wenn die Nacht lang ist und die Kantine voll und sie auch. Mit gespielten und mit ungespielten Rollen, mit gehabten und mit nicht gehabten Weibern, mit geführten und mit nicht geführten Krächen, vorliebig mit Regisseuren und Intendanten. Und je kleiner die gespielten Rollen, so größer die imaginierten Auftritte.

Karli Schwarz hat nie angegeben mit seinen Abschüssen und Fallschirmsprüngen. Ich hatte als junger Kerl ein paar Fallschirmsprünge, ohne dass auf mich geschossen wurde, und gab damit an, wann immer es ging. Kann sein, er hielt den Einsatz als Pilot eines deutschen Bombers nicht für etwas, womit einer eine große KIappe haben sollte.

Karli Schwarz war nie ein Protagonist. Kann sein, mancher der damals, als es das noch gab, regelmäßig das Erfurter Schauspiel besuchte, kann sich nicht erinnern, an eine bestimmte Rolle, an den Namen. Aber er würde sich erinnern, wenn es nicht Schauspieler wie ihn geben würde. Würde sich erinnern an Aufführungen, die unvollkommen und fragmentarisch waren, die Lücken hatten und wenig Zusammenhang. Denn Theater lebt nicht nur von seinen Protagonisten, es lebt auch von all den kleinen und kleineren Rollen, die Zusammenhänge stiften, Hintergründe bilden, eben von dem, was man Ensemble nennt.

Karli Schwarz kam 1958 nach Erfurt. Dann kam etwas, das er am Telefon „eine große Sache“ nennt, gemeint ist die, nach einigen Jahren wieder restriktiv beendete, Ära von Dieter Wardetzky. Die begründete mein Interesse für Theater, für ihn bedeutete sie, dass es keinen Platz mehr gab im Ensemble – auf so merkwürdige Weise können sich Lebenswege auch mittelbar begegnen. Nordhausen, die nächste Station, war nicht so gut, die Atmosphäre, das Klima, die Kollegen. Und dann holte ihn Bodo Witte, der Intendant, wieder nach Erfurt, da blieb und spielte er bis 1990. „Bodo“, sagt Karli Schwarz heute, „war ein feiner Mensch“. Ein Satz, den viele, die je unter ihm gearbeitet haben, gern teilen, darunter der Autor dieser Zeilen, der Bodo Witte die Delegierung zur Volkshochschule verdankt und damit einen Weg ins Leben.

Das Leben eines Hundertjährigen wird illuminiert durch die Magie der runden Zahl, der wir alle unterliegen. Diese „100“ gewinnt ihre Magie aus der Seltenheit, mit der Menschen sie erleben dürfen. Oder müssen? „Mir geht’s gut“, sagte Karli Schwarz diesen Donnerstag ins Telefon, und so wie es klang, war das sehr glaubhaft.

Die Feier am Montag, natürlich, fällt aus. Und? „Na, ich brauch das nicht für mich. Aber vielleicht nächstes Jahr“. Sagt er und sagt das „vielleicht“ auf eine Weise, die deutlich macht, er weiß um dessen Bedeutung. Aber wer weiß das schon.