Henryk Goldberg über die Frage, wie Verantwortung geht.

Eigentlich wollte ich wissen, wie das geht, Philip Glass und Franz Kafka. Aber die Premiere in Erfurt fiel gestern aus. Es wäre die kleine Bühne gewesen, um die 100 Zuschauer. Sie haben diese Vorstellung abgesagt, wie alle anderen auch bis zum 10. April. Das hat der Intendant Guy Montavon so entschieden.

Vermutlich werde ich auch nicht sehen, was sie am 28. März in Rudolstadt mit der „Dreigroschenoper“, anfangen, auch wenn sie bislang nur alle Vorstellungen bis zum 27. März abgesagt haben. Das hat der Intendant Steffen Mensching so entschieden. Und so halten sie es in Eisenach.

Ich hätte nach Weimar fahren können. Das DNT wollte, Stand Donnerstag, „Wilhelm Tell“ im ausverkauften großen Saal spielen, das hat der Intendant Hasko Weber so entschieden.

Zum Ende der vorigen Woche gab es einen Verdacht in einer Erfurter Schule. Zu Beginn dieser Woche war es den Schülern freigestellt, den Unterricht zu besuchen. Das hat der Direktor so entschieden.

Zur Mitte dieser Woche gab es in Leipzig ein Fußballspiel mit etwa 40.000 Zuschauern. Das hatten das örtliche Gesundheitsamt und der Verein so entschieden.

Und ist das nicht absurd.

Deutschland ist ein föderal strukturiertes Land. Das hat gute Gründe und fatale Folgen. Wir sehen sie jetzt, wenn es um das Krisenmanagement der Corona-Pandemie geht.

Es ist schön, wenn der Bundesgesundheitsminister die Empfehlung gibt, Veranstaltungen mit über 1000 Teilnehmern abzusagen, aber es wäre schöner, wenn das eine Verbindlichkeit hätte, etwa für den Fußball in Leipzig. Und das setzt sich fort, dann heißt es wohl Subsidiarität.

Es ist vermutlich sinnvoll, wenn Jena und Eisenach Veranstaltungen ab 100 Teilnehmern untersa-gen, es wäre vermutlich sinnvoller, wenn das auch in Erfurt und Weimar der Fall wäre. Es sei denn, die Behörden können Erkenntnisse präsentieren, warum der Gefährdungspegel, der in Jena und Eisenach bei 100 Teilnehmern erreicht wird, in Erfurt und Weimar erst ab der Marke 500 gilt.

Es ist vermutlich sinnvoll, wenn der Direktor dieser Schule entschied, Eltern und Schülern den Besuch freizustellen, es wäre vermutlich sinnvoller, wenn diese Verantwortung nicht an die Schule und die Eltern delegiert würde. So wie es sinnvoll wäre, die Verantwortung für das Betreiben oder Bespielen eines Theaters nicht an den jeweiligen Intendanten abzuschie-ben.

Das war der Stand der Dinge bis Freitagmittag, als diese Kolumne schon geschrieben war. Dann wurde entschieden, die Schulen zu schließen, dann wurde entschieden, auch in Weimar den Spielbetrieb einzustellen. Dann wurde also entschieden, dass die übergeordneten Strukturen ihre Verantwortung für das Gemeinwesen wahrnehmen. Dann wurde begriffen, dass wir uns in einer Situation befinden, die es so noch nicht gab, dass diese Situation, gegen die verbreitete Mentalität, zentrale Entscheidungen verlangt.

Der Bundesgesundheitsminister hat kein Recht auf Weisungen hier. Die Einrichtungen des Landes und der Kommunen aber haben dieses Recht und: sie haben die Pflicht, diese Verantwortung wahrzunehmen. Wahrzunehmen durch klare Anweisungen, statt die Entschei-dung, ob diese Situation nun Menschen gefährdet oder nicht, Direktoren und Intendanten zu überlassen. Das ist zu Teilen ein Fehler im System, zu Teilen aber auch eine Wegdelegieren von, eine Angst vor Verantwortung. Aber natürlich hat das auch Gründe, nachvollziehbare Gründe. Denn noch nie waren solche Entscheidungen zu treffen, weil es noch nie eine solche Situation gab. Wir, ein reiches Land in Europas Mitte, sind doch die, denen nichts passiert, das ist die Mentalität des Landes wie die seiner Bürger. Und jetzt gilt das nicht mehr. Zwar, der absoluten Mehrheit von uns wird nichts wirklich Schlimmes passieren. Aber Theater spielen nicht mehr, Sportveranstaltungen fallen aus, Schulen schließen – und das wird sich entwickeln.

Das ist ein Eingriff in das öffentliche Leben, wie er nach 1945 nicht mehr erlebt wurde, ein Eingriff auch in unseren Begriff von Freiheit. Und das kann man mal aushalten, ohne „Panikmache!“ zu rufen, ohne Zeter und Mordio zu schreien.