Henryk Goldberg über das Denken, das „die Straße“ beherrscht.

Bald nun ist Weihnachtszeit. Fröhliche Zeit? Nun ist der Weihnachtsmann gar nicht mehr weit. Gewiss, aber das Weihnachts-Gefühl will sich dennoch nicht recht einstellen.

Das Gefühl, nun wenigstens für kurze Zeit gleichsam Asyl vom Alltag auf einer Insel zu finden, die weitgehend unberührt bleibt von den Winden und Stürmen des Alltags, eine Insel, auf der Frieden herrschen und Harmonie. Das Gefühl, alles könnte gut sein oder doch werden.

Aber noch nie in den letzten Jahrzehnten waren die Tage vor dem letzten Adventssonntag so
wenig von wirklicher Vorfreude geprägt, noch nie so von solcher Unsicherheit.

Wir können uns nicht treffen, mit wem wir wollen. Wir können nicht verreisen, wohin wir wollen, wir können nicht aus dem Haus, wann wir wollen. Wir können die Eltern und Großeltern nicht in den Heimen besuchen, wie wir und sie es wollen.

Dafür werden uns, wenn wir Rentner sind, drei Masken in der Apotheke geschenkt. In anderen Jahren waren die Geschenke-Masken dieser Tage rot und hatten einen Bart, sie sollten unsere Kinder erfreuen. Jetzt sind sie medizinisch geprüft und sollen unser Leben schützen.

Und das alles haben wir, so heißt es auf der Straße, der richtigen und der digitalen, Bill Gates, George Soros und, natürlich, Angela Merkel zu verdanken. Denn die verdienen an der globalen Krise, denn die haben den, stets im Vagen bleibenden, Nutzen davon. Diese sehr verbreitete Erzählung, die im Übrigen belegt, dass die Nutzung fortschrittlicher Kommunikationsmittel nicht auch einen Fortschritt von Intelligenz bedeutet, diese Erzählung also trägt die Schuld daran, dass wir sind, wo wir sind.

Es ist „die Straße“. Das Wort beschreibt eigentlich eine arrogante, ignorante Perspektive der jeweils Herrschenden auf das Volk, auf, um es weniger völkisch zu sagen, die Menschen. Es hat etwas Verächtliches, etwas Herabblickendes, es meint die Menschen, die, aus der obrigkeitlichen Perspektive, nicht wissen, was gut und richtig ist. „Die Straße“ bewirkte die französische Revolution, und sie bewirkte, dass diese Zeitung nicht mehr „Das Volk“ heißt und, auch wenn das vielfach nicht geglaubt wird, keine Weisungen von einer wie auch immer verfassten politischen Obrigkeit entgegenzunehmen hat.

„Die Straße“ hat bewirkt, dass ich mein Leben besser, freier leben kann, als es in der DDR möglich war, „die Straße“ bescherte mir, und vielen anderen, 1989 ein Weihnachtsfest voller Glück und Hoffnung.

Und jetzt ist „die Straße“ die Verursacherin der Stimmungslage zu diesem Weihnachtsfest 2020. Dieses Jahr hat mich dazu gebracht, „die Straße“ in ihrer pejorativen Bedeutung zu denken, sie hat mir das Wort übersetzt in Dummheit und Pöbelei. Diese breitbeinige Dummheit, diese selbstgewissen Manifestationen der Ignoranz, diese Testate der brutalst-möglichen Blödigkeit, die sich bekunden in Bemerkungen wie „Schlimmer als in der DDR“, haben die Situation geschaffen, in der wir jetzt alle leben müssen.

Sie haben bewirkt, was jetzt kritisiert wird: Die unzureichende Konsequenz, mit der die politischen Verantwortungsträger in den Ländern auf die Pandemie reagiert haben.

Natürlich haben viele dieser Verantwortlichen gewusst oder doch wenigstens geahnt, dass der Lockdown „light“ nicht ausreichen würde, doch es ist in einer Demokratie schwer handeln gegen „die Straße“. Das ist nicht nur dem den anstehenden Wahlen geltenden, gewöhnlichen Opportunismus geschuldet. Es war auch wohl geschuldet der Überlegung, die gewollt aufgeheizte, aufgeladene Atmosphäre in dieser Gesellschaft nicht weiter eskalieren zu lassen, nicht die Steine zu liefern, mit denen dann geworfen wird. Aber es hat nicht funktioniert, diese Art von Opportunismus funktioniert nie. Deshalb haben wir jetzt Polizei auf den Straßen und Allgemeinverfügungen in den Kommunen und Ländern.

Natürlich, nicht jeder, der auf der Straße war, ist ein Pöbler oder gar ein Rechter. Aber wer mit ihnen Schulter an Schulter steht, sollte sich nicht wundern, wenn er als einer der ihren gilt. Ich würde „die Straße“, also Volkes Stimme und Meinung, gern wieder schätzen. Aber es ist so schwer.

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