Henryk Goldberg über den heute vielleicht stattfindenden Weltuntergang

Also, heute ist es nun soweit. Heute ist der Weltuntergang. Hä? Na, der 30. Mai. Sie kennen das schöne Lied nicht? Als es erstmals erklang, 1954, da habe ich zwar schon gelebt, aber mein Interesse am heiteren deutschen Liedgut war wohl noch nicht so sehr entwickelt, aber irgendwie hat das Spaßlied die Zeiten überdauert. Was wohl auch damit zu tun hat, dass es seitdem eine ganze Reihe von 30. Mais gab, aber die Welt immer noch nicht untergegangen ist, denn, wie es in einem anderen Lied heißt, „sie wird ja noch gebraucht“.

Andere haben das Ende der Welt nicht prophezeit, sondern beschrieben. Jakob van Hoddis, eine der tragischen Gestalten der Literaturgeschichte, schrieb unverlierbar über das „Weltende“: „In allen Lüften hallt es wie Geschrei./Dachdecker stürzen ab und gehen entzwei“.

Der Zufall will es, dass just heute zwei Dachdecker hier zugange sind, sie bringen den von ihrem Vor-Arbeiter verpfuschten Balkon wieder in Ordnung. Ich hoffe das Beste für sie und die zu verrichtende Arbeit. Und die Chancen stehen wohl gut. Denn es ist nicht das Weltende, wenn wir die Masken beim Einkaufen tragen müssen. Das sind auch keine Maulkörbe, es ist nur die Lizenz zum Maulen.

Es ist auch nicht der Weltuntergang, wenn wir zu zweit nur mit zwei Körben eingelassen werden, obgleich mancher wohl sein Recht, sich wie ein Trottel zu benehmen mit allen Möglichkeiten dieser Spezies verteidigt. Als hätten sie einmal zu viel „Rambo“ gesehen oder „The Fast and the Furious“, wobei sie nicht ganz so fast aber ziemlich furious sind.

Und an dieser Stelle, da wir also wie von ungefähr den Bogen zu Autos und Kinos geschlagen haben, fällt mir der schöne klassische Satz ein „Uns bleibt immer noch das Auto“. Nein, den hat natürlich, in einer etwas anderen Fassung, Rick zu Lisa gesagt, als sie in Casablanca an Paris dachten. Aber er führt uns dorthin, wohin muss, wer aushäusig Filme sehen will. Ins Autokino, was die cinephilen Leser dieser Kolumne bitte nicht mit dem Autorenkino verwechseln wollen, das ist eine andere Geschichte.

Das Autokino ist eigentlich so was von Retro, das wir es im Grunde nur aus dem Kino kannten, wobei die Aufmerksamkeit dann gelegentlich eher den Autos als dem Kino galt, natürlicherweise lauter schöne Oldtimer. Nun haben wir die Möglichkeit, im Kino neue Autos zu gucken, was in Sonderheit von Vorteil sein dürfte, wenn die begleitenden Damen sich für ei-nen sehr heftigen Schmerzen-im-Herzen-Film entschieden haben. Eigentlich sollten sie im Retro-Kino, um das Erlebnis perfekt zu machen, auch lauter Retro-Filme zeigen, „1-2-3 Corona“ zum Beispiel. Oder „Casablanca“. Und wenn er dann sagt, „Schau mir in die Au-gen, Kleines!“, dann könnten wir unsere Begleiterin so verführerisch anlächeln wie einst im Mai und womöglich ließe sie sich einen Kuss rauben. Wir sind ja nur zu zweit im Kino, im Auto. Auch wenn unser Gefährt nicht in der „Love Lane“ parkt, so nannten sie früher die letzte Reihe auf dem Zuschauerparkplatz, wo man ungesehen nach Herzens- und sonstiger Lust knutschen konnte, als das öffentlich noch als sittenwidrig galt.

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Okay, unsereiner befindet sich nicht mehr ganz in seiner Jugend Maienblüte, aber das Autokino bietet auch noch eine Reihe anderer Vorteile. Zum Beispiel ist man in der Blech-Loge nicht gezwungen die dummen Bemerkungen mancher Mit-Rezipienten zu rezipieren, die einem, unter uns Feingeistern, manchmal ganz schön auf den Dings gehen. Aber vermutlich sind die Jungs fein still, weil ihnen das Publikum fehlt.

Ein anderer Vorteil wäre der Umstand, dass ich keinen anderen störe, wenn ich mit dem Leuchtekuli leuchte, um ein paar Notizen zu machen. Allerdings ist der Gedanke, dass ich Filmkritiken verfasse, schon wieder fast so retro wie das Autokino.

Und just heute, Ehrenwort, bin ich zum ersten Male in einem Autokino, in Weimar. Aber nicht ich, die Dame wird über diesen Abend schreiben, vielleicht, dass ich das Lämpchen halten darf. Wie soll ein Dichter an seinem persönlichen Weltende gesagt haben: „Bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher“. Trinken darf ich übrigens auch nicht, ich bin der Fahrer.