Henryk Goldberg über Bodo Ramelow, Helmut Kohl und das Leben.

Als ich am Mittwoch zuerst davon hörte, da dachte ich spontan: Mist. Jetzt werden sie ihn zum Richtplatz schleifen mit Geheul. Dann ermahnte ich mich, sozusagen berufsethisch, die Bewertung eines solchen Vorgangs darf nicht von persönlicher Sympathie abhängen. Dann las ich dieses Interview. Und dann dachte ich an mich. An einen Mann also, der nicht nur in der Zeitung Respekt für die durch Corona bedingten Restriktionen bekundet.

Vor einigen Wochen trafen wir, die Dame und ich, uns mit einer beiden sehr nahestehenden Frau und ihrer Partnerin. Na ja, sagte diese Frau, eigentlich sei das doch gar nicht … Doch beharrte ich, es ist ein Verstoß. Also sollen wir das hier besser lassen? Nein, entgegnete ich, ich will es ja auch, ich kann es nur nicht schönreden.

Vor zwei Wochen trafen wir uns mit vier anderen Menschen in einer fremden Wohnung, es ging unter anderem um Freiheit, der Abend endete misstönend. Wir hatten uns alle die Freiheit genommen, gegen die Auflagen zu verstoßen, wenigstens die Dame und ich fanden das nicht so toll, aber wir taten es.

Und in der Radelgruppe, das sind zwischen vier und zehn Menschen, dreimal die Woche, sind die Abstände deutlich geringer geworden, am Anfang war mir das noch peinlich.

Ich erzähle das, weil Bodo Ramelow in einem Interview mit „Christ und Welt“ erzählte, wie er mit seiner Frau gleichsam Zaungast bei der Beerdigung einer Nachbarin war, auch unter Wahrung der Distanz war das ein Verstoß. Ein Verstoß gegen Regeln, die er selbst maßgeblich politisch verantwortet.

Und nun? Nun bin ich zwar nicht mit Ramelow per Du, wie ein Mensch auf Facebook mutmaßte, dessen Hauptargumentation gegen mich in dem Umstand gründet, dass ich ein „alter SED-Vogel“ mit „jüdischen Wurzeln“ sei. Aber, zugegeben, ich kann ihn gut leiden, meistens jedenfalls, und da ich hier nur der seinen Subjektivismus aus-lebende Kolumnist bin, darf ich das auch. Und sehe die Problematik, wenn der erste Mann im Lande gegen Regeln verstößt, die er selbst maßgeblich mit aufgestellt hat. Und trotzdem …

Und trotzdem verstehe ich ihn. Wie ich auch vielleicht nicht jeden aber viele verstehe, die auf die eine oder andere, meist relativ harmlose, Weise gegen die Regeln verstoßen haben.

Der Punkt ist, und auch das macht einen Unterschied zu Thomas Kemmerich, dabei, nicht noch die – mit Verlaub – große Fresse zu haben, im demonstrierten Bewusstsein, das Richtige zu tun. Die Frage, ob man das Falsche, ein Treffen etwa oder die Teilnahme an einer Beerdigung, tut, weil man etwas vorführen, etwas demonstrieren will – oder weil es ein Bedürfnis ist. Ich verstehe und respektiere jeden, der fordert, die Corona-Restriktionen regelmäßig zu begründen, zu rechtfertigen, jeden, der Fragen dazu hat.

Aber ich verstehe keinen, der hinter den italienischen Leichenbergen einen großen Plan vermutet, Bill Gates, die Radfahrer, die Regierung. Und ich kann nicht mal mehr grinsen, wenn ich – wiederum mit Verlaub – Idioten sehe, die auf der Straße „Freiheit!“ grölen und Meinungsfreiheit fordern. Allein ihr Vorkommen belegt die reichliche Existenz dessen, was zu vermissen sie vorgeben.

Der Linke erzählte die Friedhofsgeschichte gleichsam mit protestantischem Trotz und Impuls, er thematisierte das Problem eines Menschen, der, nach Luther, in beiden Reichen, dem der Menschen und dem Gottes, lebt, der hier Entscheidungen trifft, deren Folgen er dort empfindet.

Man muss nicht glauben, um das zu verstehen. Kaum je ein Politiker hat das so deutlich gesagt: dass hier Entscheidungen getroffen werden, getroffen werden müssen auf der Grundlage sehr unscharfer Kenntnisse. Was wirklich richtig war, das wird man irgendwann wissen. Ja, es wäre wohl besser gewesen, die Titanic frontal auf den Eisberg zu steuern, aber das konnte niemand wissen, als die Entscheidung zu treffen war.

Ja, ich verstehe jeden, der Bodo Ramelows Teilnahme an dieser Trauerfeier kritisiert, ja, ich ermahne mich und sage: Das war falsch. Aber manchmal muss man einfach das Falsche tun. So wie Helmut Kohl, als er sein Ehrenwort über das Gesetz stellte. Ich habe auch das immer mit einem gewissen Respekt gesehen.