Henryk Goldberg über den deutschesten aller Tage

Viele wollten es damals. Doch es war eine gute Entscheidung, den 9. November nicht zum Nationalfeiertag zu erklären. An einem solchen Tag soll die Nation unbeschwert tun dürfen, was der Name sagt. Doch wer wollte in Deutschland an einem 9. November unbeschwert einen Feiertag begehen? An diesem Tag, gewiss, fiel 1989 die Mauer, weil ein ehemaliger Chefredakteur die Übersicht verloren hatte und ein Oberst der Grenztruppen das Richtige tat. Das war ein glücklicher Tag.

An diesem 9. November (1918) rief Philipp Scheidemann die Republik aus, das war ein guter Tag.

Aber an diesem Tag (1938) begann in Deutschland die offene Verfolgung der Juden, Pogrome auf Deutschlands Straßen.

An diesem Tag (1923) wurde Adolf Hitler erstmals in der Geschichte aktenkundig, als er in München putschte und scheiterte.

Und an diesem Tag (1848) wurde zu allem Überfluss in Wien auch noch der redensartlich gewordene Robert Blum standrechtlich erschossen, ein Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung.

Aber begrüßen dürfen wir diesen merkwürdig deutschen Tag schon. Er lässt uns gleichermaßen über die Geschichte grübeln wie über ihre Zufälle. Diesen Tag hätte man für das Geschichtsbewusstsein nicht besser erfinden können. Und als würde die Geschichte uns zuzwinkern, verweist der Dichter der Deutschen auf deutsche Zusammenhänge. Denn Friedrich Schiller, der an einem 10. November geboren wurde und an einem 9. Mai starb, verpasste im Bogen seines Lebens diese beiden deutschen Zäsuren um jeweils einen Tag. Und weist doch so auf ihren Zusammenhang hin.

Denn ohne den 8. Mai 1945, den Richard von Weizsäcker 40 Jahre später als erster westdeutscher Politiker von Rang einen Tag der Befreiung nannte, ohne diesen 8. Mai hätten wir keinen Grund, diesen Tag heute zu würdigen , trotz alledem. Diesen 8. Mai im kommenden Jahr als großes Bürgerfest, das die Befreiung feiert, zu begehen, hat der Erfurter Stadtrat in dieser Woche beschlossen. Mit den Stimmen aller Fraktionen – ausgenommen die der AfD. Der intelligentere Vertreter dieser Partei begründete das mit der Ambivalenz dieses Tages. Niemand stellt diese Ambivalenz infrage, aber sie ist kein Grund, diesen Tag als gleichsam Voraussetzung unseres gegenwärtigen Lebens nicht zu feiern, fröhlich und dankbar. Und das demütige Gedenken an die Opfer ist die selbstverständliche Grundlage dieser Dankbarkeit. Mehrere Redner nannten die Argumentation des AfD-Mannes eine Camouflage. Und genau darum geht es. Sie maskieren so den Umstand, dass sie zu Teilen auch das, wovon Deutschland an diesem Tag befreit wurde, wurde, für ambivalent halten. Denn, so hat es ihr Frontmann doch vorgegeben: „Wir wissen aber natürlich, dass es in der Geschichte kein Schwarz und kein Weiß gibt. Und dass es viele Grautöne gibt“. Der dümmere AfD-Mann, er heißt Kobold, vermochte dann sogar den Proll Brandner zu überbieten. Zunächst insistierte er, dass dieser 8. Mai kein Tag der Befreiung war, und warf im weiteren Verlauf des Abends, wie ihn der deutsche Schnabel eben so gewachsen ist, folgendes argumentativ in die Debatte: „Halt die Fresse Mann!“. Doch, das ist schon schön deutsch.

Deutsch ist auch die interne Analyse eines gelungenen Grenzdurchbruchs 1973 in Mödlareuth. „Die Bereitschaft zur konsequenten und sofortigen Anwendung der Schusswaffe auf der Grundlage der Forderungen der Dienstvorschrift ist nicht gefestigt“, heißt es da. Und gefordert wird die „ verstärkte politisch-ideologische Arbeit in allen Einheiten, besonders zur Erreichung einer bedingungslosen Anwendung der Schusswaffe auf der Grundlage der Dienstvorschrift.“ Denn ein erschossener Bürger der DDR war besser als ein aus seiner Republik geflüchteter Bürger. Die Abschaffung solcher Dienstvorschriften gehört zu den Dingen, die wir heute mit recht feiern dürfen.

Damals, in der Nacht des 9. November 1989 wurde in ganz Deutschland gefeiert. Auch das war ein Tag der Befreiung, auch für mich. In erster Linie eine innere Befreiung von den Dogmen, in deren Enge ich lebte.

Doch ohne den 8. Mai 1945 wäre der 9. November nicht dieser Tag, der er heute ist. Kann sein, er würde begangen als der Tag der deutschen Reinheit.