Henryk Goldberg fragt sich, was eine Heimat ist.

„Guten Tag“, sagte Herr P. freundlich, „schön, dass Sie da sind.“ Und gab mir die Hand. Dem Begrüßten gefiel das gut, denn es war zugleich die Antwort auf eine ungestellte Frage mit leichtem gesellschaftlichen Peinlichkeitsfaktor: Lüften die Herren P. und G. eigentlich die Hüte voreinander, kennen sie sich eigentlich, so richtig offiziell? Offenkundig. Offenkundig? Ich fragte, keck geworden, Herrn P., ob er tatsächlich wisse, wer ich sei oder doch nur das unbestimmte Gefühl habe, mich irgendwann, irgendwo gesehen zu haben. „Natürlich“, sagte Herr P. „Sie sind doch am Theater“. Natürlich. Nur, dass es damals zwanzig Jahre her war.

Menschen sterben jeden Tag, und jeden Tag steht es in der Zeitung. Die meisten kennt man nicht. Aber manchmal ist es ein bekannter Name. Ach Mensch, der auch. Und manchmal berührt einen der für beinahe alle anderen eher beiläufige Vorgang auf besondere Weise. Und dass, obwohl man mit diesem Menschen weder verwandt noch befreundet war, man ihn nicht einmal besonders gut kannte. Er war dennoch, auf diese oder jene Weise, obgleich ein Fremder, Teil des eigenen Lebens. Mit manchen Künstlern geht es so.

Dieser Tage, so las ich, wäre der Schauspieler Arnim Mühlstädt 90 Jahre alt geworden. Er gehörte zum Erfurter Schauspielensemble, als ich dort die Kulissen schob. Einmal haben wir uns zusammen betrunken, und am nächsten Nachmittag, zur Rentervorstellung, zwinkerte er mir von der Bühne aus zu, ehe er, es war wohl der Restalkohol, schön laut die „Frauhaut“ rühmte statt der Freiheit.

Auch mit dem Erfurter Buchhändler Kurt Peterknecht geht es mir so. Er ist in dieser Woche gestorben, 87 Jahre alt.

Kurt Peterknecht war damals der bekannteste Buchhändler der Stadt. Und er grüßte, 20 Jahre später, als bereits sein Sohn Peter die Geschäfte führte, immer noch, wenn er in den neuen Räumen seines alten Reiches nach dem Rechten schaute. Weil er sich vage an das Gesicht eines sehr jungen Mannes erinnerte, der vor Jahrzehnten begann, seine Bücher so-wie die weltläufig erscheinende Zeitschrift „Poland“ bei ihm zu erwerben. Nicht, dass ich das Englische so recht hätte lesen können, aber sie hatte ein irgendwie modernes Layout mit Fotos und Kunst und es war irgendwie chic, die „Polen“ durch die Stadt zu tragen. Manchmal bekam, wer ein regelmäßiger Kunde war, ein seltenes Buch unterm Ladentisch hervor, schon eingepackt, um nicht die Begehrlichkeit der anderen zu wecken. Aber man kaufte auch dort, was sich problemlos im Volksbuchhandel hätte erwerben lassen.

Der Buchhändler Peterknecht hatte schon damals, was des Landes eben nicht der Brauch war, ein Image: Hier kauften die Intellektuellen und die, die gern dazugehören würden. Und wer dazugehörte, der durfte anschreiben lassen. Manchmal ließ ich die Rechnung in die schwarze Kladde schreiben, obschon das Geld durchaus vorrätig gewesen wäre, es war ein-fach schön. „Schreiben Sie‘s in die Kladde“, ganz lässig. Der junge Mann ließ gelegentlich auch dies: ganz beiläufig, durchblicken, er habe mit dem Theater zu tun, ohne indessen auf die näheren Umstände seiner Tätigkeit, es war die eines Bühnenarbeiters, einzugehen. Es muss wohl funktioniert haben. Später hat der junge Mann dann für Druckerzeugnisse gearbeitet, in die Kurt Peterknecht wohl nicht einmal seinen Fisch vom Markt würde nach Hause getragen haben. Und sagte, nach einigen Jahrzehnten, „Guten Tag“.

So einen Buchhändler, der Teil der Stadt ist, gibt es wohl auch in anderen Thüringer Orten. Es kann auch ein Bäcker sein, der schon immer gute Brötchen konnte oder besondere Kuchen, ein Fleischer, dessen‚Wurst schon immer anders war. Das sind die leisen, die stillen Zeichen, die den Menschen signalisieren, dass sie hier zu Hause sind, dass hier Heimat ist. Heimat-Zeichen, die sich in keinem Reiseführer finden lassen, denn sie sind nur von Bedeutung für die Menschen, für die sie etwas bedeuten.

In der Stadt, in der einer zu Hause ist, gehen die Uhren anders – für die, die dazugehören. Man altert gemeinsam und kann es deshalb übersehen. Einer hat 10, 15 Jahre ein anderes Leben geführt in einer anderen Stadt, dann kommt er zurück und wird angenickt auf der Straße und begrüßt beim Buchhändler. So geht Heimat. So still, so leise, so selbstverständlich. So ohne Radau und Gegröl.

Ich wünsche uns allen ein gutes Wochenende.