Henryk Goldberg blättert am Tag der Befreiung in einer Dorfchronik

Es ist ein Foto, wie es Tausende gibt. Ein Ereignis, wie es tausendfach geschieht. Die Mädchen mit Kränzen im Haar, die Jungen korrekt gescheitelt, 21 Kinder, so festlich gekleidet wie es die Schränke der Eltern noch hergeben in dieser Zeit.

Die meisten von ihnen lächeln. Der Pfarrer lächelt nicht, dabei hätte er eigentlich Grund dazu, denn es sind die Kinder seiner Gemeinde, die hier ihre Erstkommunion erhalten.

Es ist nicht, wie der Brauch es will, der „Weiße Sonntag“, auch wenn die Mädchen alle weiß tragen. Es ist Montag, der 9. April des Jahres 1945.

Die Ortschronik des bei Erfurt gelegenen Dorfes Witterda und seines Ortsteiles Friedrichsdorf widmet den Gefallenen des Krieges einen eigenen Band, hergestellt in akribischer Kleinarbeit. Es ist keine Heldenerzählung vom tapferen Soldatentod für Führer, Volk und Vaterland, es ist eine Erzählung vom sinnlosen Sterben, eine Erzählung, die den Zahlen Gesichter gibt. Eine Erzählung, die ohne Pathos erklärt, warum dieser 8. Mai, was immer er sonst noch sein mag, ein Tag der Befreiung ist. Denn er befreite Deutschland auch von Geschichten wie diesen.

Der 9. April 1945 war der letzte Tag, an dem das freundliche Dorf Witterda im Namen des Volkes beherrscht wurde von Verbrechern. An diesem Tag, da 21 Jungen und Mädchen das Sakrament der heiligen Kommunion empfangen, an diesem 9. April sterben auf den Fahner Höhen bei Witterda sieben junge Männer, der älteste von ihnen ist 19 Jahre alt.

Sie sterben einen Tod wie er sinnloser, wie er zynischer nicht sein kann.

Kann sein, sie haben den Vormarsch der Amerikaner für eine halbe Stunde aufgehalten oder einen halben Tag. Sie fielen nicht auf dem Feld der Ehre, es war das Schlacht-Feld der sinnfreien Erbarmungslosigkeit gegenüber dem eigenen Volk. Sie hießen Alfred und Paul und Gerhard und Lothar und Hartwig und Jürgen, und mit ihnen starben ihre ungezeugten, ungeborenen Kinder, die jetzt etwa mein Alter hätten. Mit ihnen starben ihre ungeborenen Enkel, die wären im Alter meiner Kinder.

Einige von ihnen würden diesen Tag heute wohl den der Befreiung nennen, andere würden im Herbst die Partei wählen, deren Thüringer Frontmann eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ einforderte. Eine Wende, in deren Gefolge dann die Fahner Höhen zum Feld der Ehre würden.

Auf diesem Feld in Witterda stirbt am 10. April 1945 zum Beispiel Heinrich Hanstein, geboren am 5. Juli 1927 in Gundershausen bei Darmstadt. Der Junge war nicht volljährig, aber alt genug für ein sinnloses Sterben. Die Chronik zeigt ein Foto von ihm, ein Junge im Sonntagsstaat, Weste und Krawatte, ein Gesicht, das in die Zukunft zu träumen scheint. Vielleicht wäre Heinrich Schlosser geworden in Darmstadt oder Lehrer. Viele Jahre später, wir sehen das Foto, fragen sich das wohl sein Vater und sein Bruder am Grab in Witterda.

Die Eltern erfahren im Mai 1945 vom Tod ihres Jungen, der evangelische Ortspfarrer Zahn schreibt ihnen einen Brief. Und schreibt von sechs gefallenen Soldaten, die er an diesem Tag sehen und bergen musste. Schreibt über die „sonnenübergossene Frühlingspracht unserer blühenden Kirschplantagen“, ein Bild, das diese Landschaft noch immer prägt. Doch in diesem April, da ist, was uns Freude und Erholung bedeutet, wie „ein weißes Leichentuch“.

Die Gemeinde Witterda, einschließlich Friedrichsdorf, musste dem Krieg des Führers 225 Männer geben, 88 von ihnen fielen. Es gibt eine Liste der letzten Kriegstoten von Witterda, der jüngste 17 Jahre, der Älteste 41, „Kopfschuss“ der eine, „Brustschuss“ der andere. Die Toten von Witterda waren, was man damals hier wurde, Fleischer, Schuhmacher, Landarbeiter, Büttner, Zimmermann. Es gibt, auf allen Seiten aller Fronten, Tausende Dörfer wie dieses und alle erzählen sie die eine Geschichte.

Einer der Gefallenen war Kraftfahrzeugschlosser, 1941 wurde er Flugzeugführer, er kehrte vom ersten Feindflug 1942 nicht zurück. Vorher hatte Walter Rauch aus Elxleben Else Nagel geheiratet. Ihr Grab, an dem wir an einem jeden 24. Dezember stehen, ist in Witterda, seines, wenn es eines gibt, ist unbekannt.

Der Sohn von Walter und Else ist mein Schwiegervater.