Ein Salon über die Bilanz des bösen Jahres 2020.

Endlich ist es vorbei, dieses vermaledeite Jahr. 2020 wird es nicht unter die Top 60 meines persönlichen Jahresrankings schaffen, zumal die ersten 5,6 Jahresdurchgänge wohl außer Konkurrenz laufen sollten, wenigstens sind mir größere Krisen nicht erinnerlich.

Auch das Weihnachtsfest 2020 wird keinen vorderen Platz beanspruchen können. Es war für mich die erste Weihnacht, zu der meine Mutter nicht mehr lebt und auch meine Kinder müssen das sagen über ihre Mutter. Das allein hätte schon gereicht, dieses Jahr nicht zu mögen. Wer ein gewisses Alter erreicht hat, der denkt nicht nur gelegentlich über die eigene Perspektive nach, um diesen Gedanken dann zu verdrängen, ehe er sich dann doch wieder unabweisbar Raum schafft, der hat auch gelernt, ihn betreffende Tode zu verarbeiten.

Das heißt, nicht wirklich gelernt im Sinne einer beherrschbaren Routine, aber doch gelernt, irgendwie damit zurechtzukommen, damit umzugehen. Aber zwei solche Trauerfeiern in einem Jahr, auch wenn die eine einer Frau von 96 Jahren galt und die andere einer, mit der man seit vielen Jahren nur noch die Kinder und eine Vergangenheit teilte, zwei solche Ereignisse machen es einem Jahr sehr, sehr schwer, in guter Erinnerung zu bleiben.

Und dann der Rest.

"Nein sie is daran verstorben sie ist nicht mehr aufgewacht toood ihr könnt euch doch alle spritzen lassen ich tu es nich weil noch keine Tests klar sind die wissen keinen Nebenwirkungen von der Impfung nee das is mir alles zu Waage bei der Pille haben se och gesagt is sicher und im Nachhinein kamen die ganzen kondagankinder du kannst dich doch impfen lassen wenn du gesund bist bitte ich stehe doch keinem im Weg ich sage meine Meinung und das darf ich ohne von dir klopoi doof angemacht zu werden ich habe meine Gründe warum ich mich nich impfen lasse du Arsch es gibt Menschen die haben Erkrankungen verstehste wo noch gar nich raus is ob wir überhaupt das zeug kriegen dürfen durch Medikamente aber erstmal drauf ne Bloß nich freundlich gleich drauf so erbärmlich."

Ja, gleich drauf, so erbärmlich. Diesen Text habe ich aus Facebook kopiert, auch die Erinnerung an Hunderte solche, nun ja: Meinungsäußerungen prägt dieses Jahr für mich, jenseits des unmittelbaren Betroffenseins. Es ist das bedrückende Empfinden einer grenzenlosen Dummheit, die den Verlust jeglicher Scham ergänzt durch einen Zugewinn an verstörender Selbstgewissheit. Gewiss, zu Goethes Zeiten hätten diese Menschen auch gezetert, aber sie wären erträglicher gewesen, sie hätten nicht die Atmosphäre geprägt. Schon deshalb nicht, weil diese Leute mehrheitlich des Lesens und Schreibens wohl unkundig gewesen wären.

Um 1770, heißt es, wurde diese Kulturtechnik von etwa 15 Prozent der Bevölkerung beherrscht. Die Leute, die dazu beitrugen, mir dieses Jahr zu vergällen wären wohl zum überwiegenden Teil bei den 85 Prozent gewesen. Ja doch, ich weiß es doch, es ist selbstverständlich richtig dass es eine Schulpflicht gibt; ja doch, ich weiß es doch, es ist selbstverständlich richtig, dass in einer Demokratie jeder seine Meinung frei äußern darf in Wort und Schrift. Und ja, es ist auch richtig, dass der Zugang zu den sozialen Medien nicht an eine Intelligenzprüfung gebunden ist.

Aber es gibt, im Ernst, eine durchschnittliche Intelligenz, die überdurchschnittlich unsozial ist, die jede Fähigkeit zur Selbstreflektion verloren hat und jedes Gefühl für Maß und Mitte. In normalen Jahren blubbern diese Leute in ihren Blasen und Kneipen, die übrigens durchaus respektable Restaurationen sein können, vor sich hin.

In diesem 2020 sind sie tatsächlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen, das ist es, was dieses Jahr, jenseits des Privaten, so widerwärtig erscheinen lässt. Aber wenn wir nun, dem Tag die Ehre gebend, auf das blicken, was seit gestern neu ist, dann hüten wir uns vor Sätzen wie "Es kann nur besser werden." Ein kurzer Blick in die Welt erweist, dass unsere Krisen und Katastrophen für weite Teile dieser Welt Glück wären und Utopie sind. Wünschen wir uns also allen Glück. Vielleicht wird es ja wirklich besser.