Frank Quilitzsch schaut weit zurück und ein wenig voraus.

Schön ist es, im Alter zu erleben, wie sich die Perspektive weitet. Man schaut auf sein eigenes Leben zurück und blickt zusammen mit den Kindern und Enkeln in die Zukunft. Als Schriftsteller betrachte ich auch das Leben meiner Eltern, und wenn ich mich an meine Kindheit im Dorf der Großeltern erinnere, sehe ich auch meine Urgroßmutter im Lehnsessel am Fenster sitzen: eine in Würde gealterte Frau mit runzligem Gesicht, schlohweißem Haar und wässrigblauen, neugierigen Augen.

Da ich Friederike W. schon in meinem Buch „Begegnung mit einer Prinzessin“ ein kleines Denkmal gesetzt habe, möchte ich heute nur an ihren 90. Geburtstag erinnern, den sie 1973 mit Speckkuchen und Johannisbeerschnaps in ihrer Stube feierte. Am Vormittag gratulierten der Bürgermeister, der Kindergartenchor und per Telegramm aus der Hauptstadt der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht. Am Nachmittag kam die Großfamilie, und die Wiedererkennungsszenen wollten kein Ende nehmen: „Bist du nicht...? Ach ja… Ach was… Leibhaftig...! Unverkennbar...! Noch immer die Alte… Wie die Kinder gewachsen… Wie die Zeit vergeht… Gut siehst du aus...! Was denn, auch tot...? Der war doch noch… Oje! Naja! Nu denn...“

„Mutter“, wie Friederike von allen nur genannt wurde, war Jahrgang 1883, hat das Kaiser- und Nazireich überlebt. Sie erzählte mir, wie sie, nachdem Urgroßvater Wilhelm im Ersten Weltkrieg gefallen war, ihre vier Kinder allein durchgebracht hat. Mit 93 rezitierte sie noch Schillers „Glocke“ und las jeden Tag im Neuen Deutschland.

Warum ich das erzähle? Weil ich finde, dass wir selbst in Corona-Zeiten nicht nur von Tag zu Tag schauen, sondern auch mal den Blick schweifen lassen sollten. Wir sind zwar nur Gast auf Erden, doch selbst wenn wir keine 94 Jahre alt werden, können wir unser Erlebnisfeld beträchtlich erweitern. Ich schaue mit „Mutter“ Friederikes Hilfe bis ins 19. Jahrhundert zurück, als noch nicht an Automobilität und Weltraumfahrt zu denken war, und warte auf die Ankunft der Enkel. Da sich die Generationsfolgen verlängern, muss ich mich noch gedulden. Aber irgendwann wird Klein-Friederike an meinem Lehnstuhl sitzen.