Britta Hinkel genießt das Privileg zu ernten.

Neulich fragt mich meine beste Freundin Pia: „Wusstest du, dass Erntedank eine Besonderheit unserer Breiten ist?"

„Sicher. In Wüstenregionen oder Überschwemmungsgebieten wird man es kaum feiern. Oder wie ist deine Frage gemeint?“, sag ich.

„Anders. Ich hab das von einer russischen Sprachwissenschaftlerin gehört; in Russland wundere man sich über unsere merkwürdige Tradition, dort feiert man das nicht. Erntedank – Fehlanzeige. Die Ernte hat da einen ganz anderen Stellenwert“, sagt Pia.

„Interessant. Das habe ich wirklich nicht gewusst. Und was bedeutet das nun?“, sag ich.

„In ihrer Heimat, so hat die Frau erzählt, war die Erntezeit von jeher mit Entbehrungen, harter Arbeit und großen Anstrengungen verbunden. Und deshalb eher gefürchtet und sogar negativ besetzt“, sagt Pia.

„Wahrscheinlich weil diejenigen, die ernten mussten, nur wenig vom Ertrag hatten – und warum sollten sie dann auch feiern? Macht ja wenig Sinn“, sag ich.

„Naja, man feiert ja Erntedank nicht nur aus rein pragmatischen Gründen, also weil wir die Früchte unserer Arbeit unmittelbar genießen und vertilgen können. Sondern vor allem, weil es Früchte überhaupt gibt, weil der liebe Gott oder die Natur oder wer auch immer uns die Speicher und die Vorratskammern immer wieder verlässlich füllt“, sagt Pia.

„Ja, sag ich doch. Uns, in unseren Breiten, seit Jahrhunderten. Den Russen offenbar nicht, da litten Generationen Hunger und Not“, sag ich.

„So hab ich das noch gar nicht gesehen. Auf jeden Fall ein interessantes Phänomen“, sagt Pia.

„Auf jeden Fall! Apropos, ich hab da ein Säckchen Äpfel und ein paar Gläser Aronia-Marmelade für dich stehen. Muss ja nicht gleich eine Feier daraus werden. Aber kannst du gern abholen“, sag ich.