Ingo Glase über Thüringer Traditionen.

Alles begann mit einer Gefälligkeit. Im Haus, also auf dem Hof, meiner Kollegin wurde geschlachtet. Eine Familientradition. Ein stattliches Borstenvieh, liebevoll aufgepäppelt, revanchierte sich für sein schönes Leben mit Leber-, Brat- und Blutwurst, Knackwurst, Hack und Schnitzel. Und einem Kessel voller Schlachtsuppe, jener Brühe also, in der die Wurstblasen ihrer Vollendung entgegenziehen. Ein Eimer davon war für mich reserviert – eine tolle Grundlage für einen deftigen Schlachtfest-Herbsteintopf aus Weißkohl und Wirsing, Sellerie und Kohlrabi, Möhren und Petersilienwurzel, Kümmel und Hackfleischbällchen.

Wie immer habe ich mich in der Menge verschätzt: Obwohl der größte Suppentopf randvoll war, blieb die Hälfte vom Gemüse übrig. Ich dachte sofort an Kohlrouladen, den Herbst-Klassiker mit brauner Soße. Um aber den Farben des Herbstes genüge zu tun, empfiehlt sich die rote, schwäbische Variante: das Wurzelgemüse für die Soße mit Speckwürfeln und Tomatenmark anbraten. Das verleiht den deutschen Kohlrouladen einen italienischen Geschmack. Wer es lieblicher mag, kann das Wurzelgemüse aber auch mit braunem Zucker leicht karamellisieren. Spitzenkoch Nelson Müller mischt für seine Kohlrouladen Bratwurstbrät unter das Hackfleisch, damit die Füllung feiner und kräftiger wird – und serviert die Rouladen auf gedünsteten Krautstreifen und glasierten Möhren. Zudem verblüffte er mit der Erkenntnis, dass in Thüringen Kohlrouladen traditionell in Rotkraut gewickelt würden, was mich sehr verwunderte – dies war mir neu. Aber tatsächlich: Im Thüringen-Kochbuch der Reihe „Deutschland kulinarisch“ von 2004 sind die Rotkohlwickel aufgeführt, zubereitet wie ihre grünen Verwandten. Grund genug, die Tradition wieder aufleben zu lassen.