Erfurt. Erfurter Theater spielt Venables‘ Kammeroper „Denis & Katya“ in einer Blackbox

Eine gruftige Atmosphäre umfängt die Zuschauerschaft beim Eintritt in die Studiobox. Schwarz schimmern vier Projektionswände, die eine quadratische, weiße Spielfläche umrahmen. Es ist, so zeigt sich bald, gleichermaßen ein realer und virtueller Raum. Man sitzt im Karree wie in einem anatomischen Theater, um dem Amoklauf eines psychopathischen Teenager-Paars zuzusehen: Die Oper Erfurt spielt Philip Venables‘ „Denis & Katya“ (2019) – und setzt bewusst eine Triggerwarnung im Netz. Dieses Stück lässt das Blut in den Adern gefrieren.

Venables ist ein Rising Star der zeitgenössischen Oper

Der mächtig gehypte, britische Komponist und Ted Huffmann, sein US-Librettist, haben als Stoff ihrer Oper eine wahre Begebenheit erkoren, die sich 2016 im russischen Strugi Krasnyje, einem Kaff im Oblast Pskow südwestlich von Petersburg, zutrug. Zwei 15-Jährige – eben Katya und Denis – schießen wild um sich und haben sich in einer schnell von Spezialkräften der Polizei umstellten Datscha verschanzt. Den letalen Showdown streamen sie via Periscope im Internet live.

Die Begleitmusik treibt das Geschehen

Diverse Beeps signalisieren eintreffende Newsfeeds, Tweets oder Posts, elektronisch verstärkte Cello-Ostinati entfachen Erregung – und das unausweichliche Grauen nimmt seinen Lauf. Die vier Musici, an den Ecken des Spielfelds postiert, treiben das Geschehen an, indessen die beiden Akteure, die Kammersänger Katja Bildt und Máté Sólyom-Nagy, mittels ihres Sprechens und Deklamationsgesangs es vollziehen und zugleich kommentieren. „Bei Minute fünf haben sie acht Viewer“, heißt es zu Beginn. Das ändert sich schnell, eine asoziale Net-Community schaltet ein.

Versuchsanordnung auf kahler Bühne, wie in einem sozialwissenschaftlichen Labor.
Versuchsanordnung auf kahler Bühne, wie in einem sozialwissenschaftlichen Labor. © Theater Erfurt | Lutz Edelhoff

Multiperspektivisch schildert und begleitet die Oper unter Einsatz authentischen Materials den Fall aus Sicht eines Freundes, eines Lehrers, einer Nachbarin, einer Journalistin und anderer Figuren. Auf weiteren Zeitebenen montieren Huffmann und Venables ihre späteren Recherchen und Whatsapp-Dialoge zur Entstehung des Werks gleich mit ein. So zupackend krass funktioniert moderne Dramaturgie. Die Beiden erwägen sogar Zitate aus dem Original-Stream, wovon sie aus medienrechtlichen, nicht etwa ethischen Gründen absehen.

Höhnische Kommentare begleiten den Stream

Ein wenig fahl und steif agieren die Sänger nur anfangs. Fast ist es unmöglich, die Urheber der vielstimmigen Posts stimmlich zu charakterisieren. Hate Speeches, Trolling und Obszönitäten flimmern auch schriftlich über die Screens: Von „abgefuckten Schulkindern“ geht da die Rede, „Zeig deine Titten!“, fordert ein Viewer Katya mehrfach auf. Auslöser des Amoklaufs war „nur“ ein Verdikt der Eltern – wie bei Romeo und Julia – gegen die junge Liebe, doch in der unmenschlichen Empathielosigkeit der Kommentare liegt der größere Skandal.

Distanzierende Anordnung wie in einem Labor

Wohl bewusst haben Markus Weckesser (Regie), Mila van Daag (Ausstattung) und Pierre Martin Oriol (Videodesign) die Schwarz-weiß-Ästhetik bis an die Grenze zur Abstraktion reduziert: wie in einem sozialwissenschaftlichen Versuchslabor, dessen Probanden ja eigentlich wir sind. Das ist äußerst klug und angemessen, zumal in einer Stadt, in der die seelischen Narben eines Schulmassakers vor 22 Jahren bis heute wehtun.

Wer Oper für eine antiquierte Kunstform hielt, fühlt sich kathartisch eines Besseren belehrt. Aus Sicht der kulturellen Bildung muss diese kleine Produktion schon jetzt als Großtat des Jahres gelten. Chapeau! Zwanglos und bei klarem Verstand geht ein junges Publikum hin.

Weitere Vorstellungen: 21. und 22. Februar, 9. und 17. März. www.theater-erfurt.de