Jena. Am 3. April 2024 wäre der zweifache Oscargewinner Marlon Brando 100 Jahre alt geworden. Er gilt als einer der größten Darsteller aller Zeiten, obwohl ihm die Schauspielerei nicht viel bedeutete. Oftmals wurde er als Rebell verklärt.

Es gibt da diese Szene in der Zeichentrick-Serie The Simpsons: In der Folge „Die Reise nach Knoxville“ aus dem Jahr 1996 schuftet Sohnemann Bart notgedrungen als Kurier und wird durch die ganze Welt geschickt. Plötzlich flattert in das schmuddelige Büro seines Chefs ein Auftrag für eine Lieferung über 500 Big Macs herein. Deren Ziel: die Insel von Marlon Brando.

So schaute die Welt in den 90er-Jahren – und in jenen Tagen war die gelbe Comic-Familie aus Springfield durchaus die Welt – auf einen der Größten der Filmgeschichte. Ob seiner Leibesfülle zu einem Witz degradiert, berüchtigt für seine Unberechenbarkeit und Marotten – er hatte seinen Teil dazu beigetragen. Wenn es ihm schlecht ging, stopfte er alles in sich hinein. Maßlos, so wie er einst die Frauen eroberte, handhabte er es im Alter mit dem Essen. Und in seinem finalen Lebensjahrzehnt ging es ihm oft schlecht - es war geradezu gnadenlos: künstlerisch, körperlich und vor allem auch privat.

Brando faszinierte und verstörte gleichermaßen als Stanley Kowalski

Am Ende blickte die Welt mit einer Mischung aus Spott, Mitleid und Gerüchten auf den zweifachen Oscarpreisträger. In jener Melange wiederum spiegelte sich auch die traurige Gewissheit wider, dass auch jene, die in ihrer Blüte engelsgleich daherkommen, nicht minder jenem oftmals schonungslosen Prozess namens Altern ausgeliefert sind. Allein ihre Fallhöhe ist um einiges tiefer. Bei Marlon Brando war sie geradezu exorbitant. Am 3. April 2024 wäre er 100 Jahre alt geworden.

Bei seinem letzten Leinwandauftritt „The Score“ im Jahr 2001 war nichts mehr geblieben von jenem Halbgott, der das größte Idol der 50er-Jahre war – vor Elvis Presley und auch vor James Dean, wobei sich Letzterer ja sowieso nur an Brando orientierte. Im Gegensatz zu seinem Vorbild brannte sich Dean ob seines Todes im Alter von nur 24 Jahren als ewiger Jüngling in das kollektive Gedächtnis ein. Es gab keinen Verfall zu bestaunen. Lediglich der posthum erschiene Film „Giganten“ (1956) ließ erahnen, wie er im Alter hätte aussehen können, als er den in die Jahre gekommenen Ölbaron Jett Rink gab. Während andere Größen wie Sean Connery, Paul Newman oder Tony Curtis, aber auch die noch lebenden wie Alain Delon oder Michael Cain im hohen Alter keinen Zweifel daran aufkommen ließen und lassen, warum ihnen über Jahrzehnte Verehrung entgegenschlug, war es bei Brando nicht mehr derartig offenkundig. Er war schlichtweg verbraucht. Ein Koloss, der von einem Hawaiihemd bedeckt wurde.

Animalisch, roh, stumpf, wütend und durch und durch sexuell konnotiert

50 Jahre zuvor faszinierte und verstörte Marlon Brando indes gleichermaßen, als er in „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams (1951) den Stanley Kowalski gab – im verschwitzten, enganliegenden T-Shirt oder mit gänzlich freiem Oberkörper: animalisch, roh, stumpf, wütend, brüllend und durch und durch sexuell konnotiert. Eine maskulin-proletarische Bestie, die hinter ihrer definierten Fassade unsicher und verletzlich war – eine bis dato nie dargebotene Ambivalenz, von der Tennessee Williams höchstpersönlich äußerst angetan gewesen sein soll.

Marlon Brando gab Stanley Kowalski als tickende Zeitbombe, in einer bis dahin nicht gekannten Intensität. Es hatte den Anschein, dass er jener grobschlächtige Arbeiter bisweilen selbst war. Während Viven Leigh als Blanche DuBois klassisch-souverän schauspielerte, und man darum wusste, dass sie die Rolle jeder Zeit ablegen kann, schien der damals 26-Jährige mit seinem Charakter eins geworden zu sein – ganz im Sinne jenes Ansatzes, den er bei Stella Adler in New York erlernt hatte: Method Acting. Jene auf den Theorien von Konstantin Sergejewitsch Stanislawski beruhende (Schauspie-)Lehre, bei der Erlebnisse aus der eigenen Vita, aber auch situative Stimmungen und instinktive Handlungen für das Ausloten der Charaktere geradezu elementar sind.

Eltern waren Alkoholiker

Die Legende besagt, dass Marlon Brando eher zufällig in dem Studio von Stella Adler auftauchte. Er arbeitete im gegenüberliegenden Gebäude als Liftboy und soll nur wegen der zahllosen Frauen, die auf der anderen Straßenseite im Inneren des Hauses verschwanden, plötzlich in den Lehrräumen gestanden haben. New York wiederum war in jenen Tagen ein Fluchtpunkt für ihn. Seine beiden älteren Schwestern lebten bereits in der Metropole, und auch er brach mit 17 Jahren von Nebraska gen Ostküste auf, um seinem Zuhause in Omaha zu entkommen: Seine Eltern waren Alkoholiker. Während Mutter Dorothy in den Bars der Stadt versackte und er sie des Nachmittags suchen musste, war sein Vater, ein Handelsvertreter, nur selten zu Hause – doch wenn er da war, gab es Streit und er schlug seine Frau. Der Vater, der ebenfalls Marlon hieß, war zudem ein Schürzenjäger. Dramatische und verstörende Erinnerungen, auf die der spätere Weltstar, der als Jugendlicher ein Außenseiter und Aufsässiger war, zurückgreifen wird, wenn er seine Rollen definiert.

Bevor Dorothy Brando dem Alkohol verfiel, war sie jedoch der Star des Theaters in Omaha – ihr Sohn lebte ihren Traum weiter. Und wie er es tat: erst am Broadway, dann in Hollywood. Nach der Theateradaption „Endstation Sehnsucht“ (1951) gab er in „Viva Zapata!“ (1952) den gleichnamigen Revolutionär - in beiden Fällen führte Elia Kazan Regie. Anschließend spielte er Marcus Antonius in der Shakespeare-Verfilmung „Julius Caesar“ (1953) von Joseph L. Mankiewicz sowie den Anführer einer Motorrad-Gang in „Der Wilde“ (1953) und den Dockarbeiter Terry Malloy in „Die Faust im Nacken“ (1954) von Elia Kazan.

Für Brando war die Schauspielerei keine Passion

Mag er für die Rolle des Terry Malloy den Oscar bekommen haben, für seine eigene Entwicklung, seine Genese, war die Rolle des Marcus Antonius in „Julius Caesar“ essenzieller. Brando, der die Schule abbrach und Legastheniker war, bestand zwischen den Briten James Mason und John Gielgud, dem renommierten Shakespeare-Darsteller. Seine Mutter habe ihm stets zu verstehen gegeben, dass man es als Schauspieler nur dann zu etwas gebracht hätte, wenn man irgendwann Shakespeare spiele.

Man kann es getrost als Ironie des Schicksals betrachten, dass einer, dem die Schauspielerei nicht sonderlich viel bedeutete, gesegnet war mit einer außergewöhnlichen Gabe, doch für Brando war die Schauspielerei alles andere als eine Passion. Mitunter blickte er voller Verachtung auf das Metier, das von ihm im Laufe der Zeit zu einem Mittel zum Zweck degradiert wurde; zu einem Mittel, um Geld zu verdienen – insbesondere in seiner finalen Schaffensphase, aber auch schon davor, war es nicht selten sein treibendes Motiv. 1978 erhielt er für die Rolle des Jor-El in „Superman“ eine Gage von 3,7 Millionen Dollar und eine Gewinnbeteiligung. Für damalige Verhältnisse eine absurd hohe Summe, zumal er nur gut eine Viertelstunde auf der Leinwand zu sehen war.

Vito Corleone ist immer noch omnipräsent

Ende der 60er-Jahre wirkte Marlon Brando ausgelaugt. Kritik und Publikum hatten sich von ihm abgewandt, doch ein Schriftsteller und ein junger Regisseur glaubten immer noch an ihn: Mario Puzo und Francis Ford Coppola. Puzo hatte 1969 den Mafia-Roman „Der Pate“ veröffentlicht, Coppola indes, wie Puzo italienischstämmig, sollte schon bald zur Speerspitze des New Hollywood gehören - auch dank seiner Verfilmung der Familiensage mit Brando als Mafia-Oberhaupt Vito Corleone. Der damals 47-Jährige trug eine Mundprothese, um den 65-jährigen Paten mit entsprechenden Wangen zu geben und erlebte eine Renaissance sondergleichen. Der in sich ruhende, behäbige und brabbelnde Gangster, der mit einem Minimum an Gesten auskam, sollte zu seiner bekanntesten Rolle werden. So manch großer Film und so manch großer Charakter von Marlon Brando mag heute nur noch Cineasten ein Begriff sein, doch Vito Corleone ist immer noch omnipräsent, auch weil die Mafia-Saga immer wieder thematisch von der Hip-Hop-Kultur aufgegriffen wurde.

Die bekannteste Rolle von Marlon Brando: Mafia-Oberhaupt Vito Corleone in „Der Pate“ von 1972 von Francis Ford Coppola.
Die bekannteste Rolle von Marlon Brando: Mafia-Oberhaupt Vito Corleone in „Der Pate“ von 1972 von Francis Ford Coppola. © picture-alliance /

Es war jedoch Bernardo Bertolucci, der dem alternden Star noch einmal jenes intensiv-instinkthafte Spiel entlockte, welches er 20 Jahre zuvor eindrucksvoll in „Endstation Sehnsucht“ und „Die Faust im Nacken“ dargeboten hatte. In „Der letzte Tango in Paris“ gibt er einen vom Weltschmerz gezeichneten Amerikaner, der den Verlust seiner Frau nicht verwinden kann und durch Paris irrt und sich am Ende im obsessiven Liebesspiel mit einer Studentin gänzlich verliert. Die Kritik zeigte sich begeistert, doch danach sollte Marlon Brando nie wieder in derart entrückte Schauspielsphären vorstoßen.

In puncto Unberechenbarkeit blieb er sich treu

Dafür blieb er sich in puncto Unberechenbarkeit treu. Als er im Oktober 1976 auf den Philippinen am Set des Kriegsfilms „Apocalypse Now“ aufschlägt, wiegt er 110 Kilogramm und hat einen kahlgeschorenen Schädel – am Ende war es nur eine von zahlreichen Katastrophen, die die Produktion des späteren Klassikers von Francis Ford Coppola heimsuchen sollten.

Den wiedergewonnenen Zuspruch nutzte Brando auf seine Art. Als er 1973 zum zweiten Mal als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet wurde, glänzte er durch Abwesenheit – er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihm Hollywood und dessen Riten zutiefst zuwider waren. Damit nicht genug: Statt seiner betrat Sacheen Littlefeather in traditioneller Apachen-Kleidung die Bühne, um den verdutzten Anwesenden zu verstehen zu geben, dass er aufgrund des Umgangs der Filmindustrie mit den indigenen Völkern Amerikas den Oscar nicht annehmen könne – ein Affront par excellence. Bereits in den 60er-Jahren hatte sich der Schauspieler der Bürgerrechtsbewegung angeschlossen und sympathisierte phasenweise sogar mit der Black Panther Party.

Für Elia Kazan war er der Größte

Nicht selten wurde Marlon Brando als Rebell tituliert; einer, der die Hollywood-Regeln für sich zu nutzen wusste, selbst in jenen Momenten, in denen auch er sich diesen nicht entziehen konnte - am Ende stimmte wenigstens die Gage. Womöglich ist Rebell eine zu große Verklärung für jemanden, der oftmals nur des Geldes wegen spielte, doch das nicht selten mit einer beeindruckenden und energisch-gefährlichen Präsenz, die man in dieser Art nie wieder sah. Für seinen Mentor Elia Kazan, mit dem er dreimal zusammenarbeitete, war er schlichtweg der Größte - und der Regisseur hatte unter anderem mit James Dean, Montgomery Clift, Spencer Tracy, Karl Malden oder Richard Widmark gedreht.

Der Größte also, um am Ende zu einem Witz bei den Simpsons degradiert zu werden. Oder war es womöglich auch eine Verneigung, in der für Simpsons-Macher Matt Groening eigenen, schonungslosen Manier?

Madonna erklärte ihn zur Stilikone

Doch die 90er-Jahre waren nicht ausschließlich brutal zu Marlon Brando: In ihrem der Schönheit und der Mode gewidmeten Nummer-eins-Song „Vogue“ aus dem Jahr 1990 zählt Madonna die Stilikonen jener längst vergangenen Tage auf. Neben Greta Garbo, Marlene Dietrich, Marilyn Monroe, Grace Kelly, Rita Hayworth oder Gene Kelly wird auch, in einem Atemzug mit James Dean, Marlon Brando erwähnt - they had style, they had grace. Man darf sich verneigen.