Eisenach. Ballettabend „Your first memory“ am Landestheater Eisenach verstört und betört zugleich mit tänzerischen Erinnerungen an das zukünftig Gewesene.

Regen fällt. Ein Wolkenbruch. Das hören wir. Menschen, grau in grau von Kopf bis Fuß, flüchten aus der Dunkelheit unter den Schimmer einer Neonlampe. Das sehen wir. Man bildet eine Wartegemeinschaft, als käme da demnächst etwas. Bus oder Bahn vielleicht. Die führten dann wohl in eine unbestimmte Richtung zeitlicher Natur.

So beginnt „Your first memory“. Aber ist das wirklich der Beginn? Kann auch sein, es ist das Ende: das, was einmal gewesen sein wird, derweil es noch vor ihnen liegt, oder das, was längst an ihnen vorbeizog.

Bryan Arias aus New York absolvierte mit dem Eisenacher Ballett gleichsam ein szenisches Gedächtnistraining für Körper und Geist. Und er choreographierte schließlich, so jedenfalls ein Eindruck nach diesem so verstörenden wie betörenden Tanztheater, das Futur II: Die naturgemäß jungen Tänzer unter Masken sehr alter Menschen werden sich wohl daran erinnert haben, wie sie sich einst erinnert haben werden.

Und nun können wir niemals ganz sicher sein, ob sie nicht eher nach vorne schauen, wenn sie zurückblicken, und umgekehrt. Sie sind jedenfalls erstmal draußen: vor der grauen Hauswand, die Ausstatterin Anne Wallucks im sonst leeren, kahlen Bühnenraum schräg vor die Brandmauer stellte. Ein großes Schaufenster lässt auf Stühle, Tisch und Blümchenvase blicken. Diesseits dessen trippelt der Pulk vielfüßig umher, die Köpfe schief gehalten, einzelne drängen nach vorn oder heraus, verschwinden wieder in der Masse mit im Grunde nur zwei Masken: die des oder aber die der komischen Alten. Scheinbar absurde und aberwitzige Schritt- und Bewegungsfolgen bestimmen die erste Hälfte: ein grundsätzlich anhaltendes Stakkato, in dem sie sich an jede Bewegung, an jedes Körperteil auch einzeln wiedererinnern müssen. Das wirkt, als entdeckten sie neu, was ihnen doch ganz vertraut sein sollte. Es sind mitunter gerontologische Tänze, in denen ein Bein- oder Hüftleiden ein gelenkiges Sich-ans-Leben-Schmiegen konterkariert. Sie pendeln, sie winden sich, suchen nach dem Richtungswechsel, zurück ins Legato, wo alles miteinander verbunden war. Sie proben – die Premiere fand am Abend vor der Osternacht statt – die Wiederauferstehung der Invaliden.

Keine Erlösung, aber eine Auflösung des ersten Teils findet im zweiten statt. Nach der Pause dringen wir ins Innere vor, in jenes Zimmer, das ein Erinnerungsraum ist. Ohne die Masken des Alters tanzen sie dort, unter Fabrikhallenlampen, um ein individuelles Leben. Und merkwürdige Bewegungen, die wir früher sahen, ergeben plötzlich Sinn.

Einmal zieht dabei einer dem anderen den Stuhl unterm Hintern weg, doch der vergisst umzufallen; sein Körper erinnert das Sitzen. Das Hier und Jetzt, sagt uns diese Szene, sagt der ganze Abend auch, ist ohne das Gestern und Morgen undenkbar.

Arias stellt eine moderne Formensprache vor, die Traditionen bricht, ohne sie zu vergessen. Und Yanick Herzogs musikalischer Flickenteppich grundiert das vorzüglich.

Sonntag, 28. April, sowie 5., 16., 19. und 24. Mai. In Meiningen ab Oktober, in Weimar ab März 2020