Erfurt. Das Theater Waidspeicher inszeniert Judith Schalanskys „Atlas der abgelegenen Inseln“.

„Allons enfants de la Patrie…“. Trotzig schmettern sie ihre Fanfare, obgleich nun keineswegs der Tag des Ruhmes gekommen ist. Denn sie kommen, um den großen Kaiser in die Heimat zu holen. Und da liegt er in dem Sarg oder vielmehr: unter den Särgen. Einen nach dem anderen tragen sie hinaus, das russische Matroschka-Prinzip für den großen Franzosen. Die Söhne des Vaterlandes ermutigen sich selbst, indem sie ihr Lied singen, wieder und wieder. Mehr bleibt ihnen nicht, es ist 1840, St. Helena. Schließlich haben sie kaum etwas über Napoleons Insel erzählt, aber viel über die Möglichkeiten des Puppentheaters.

Das Erfurter Theater Waidspeicher hat mit dem „Atlas der abgelegenen Inseln“ eine Arbeit unternommen, die als Projekt zunächst merkwürdig erscheinen will und dann als Inszenierung nachgerade zwingend. Denn Judith Schalanskys so sonderbares wie schönes Buch ist eines vom Träumen. Diese „Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde“ sind Projektionsflächen der Phantasie, ihre Namen klingen wie ein Sehnsuchts-Raunen. Und in den kurzen, eher sachlich-lakonischen Texten erzählt sie, wie die erfahrene Wirklichkeit einer Sehnsucht kaum je ihrer erträumten Imagination gerecht wird.

„Die Insel“, so schreibt sie, „ist ein theatraler Raum, alles, was hier geschieht, verdichtet sich beinahe zwangsläufig zu Geschichten, zu Kammerspielen im Nirgendwo…“. Es sind wohl diese Kammerspiele im Nirgendwo, diese Möglichkeit des ästhetischen Träumens, die nun auch die Erfurter zu diesem Text greifen ließen. Raphael Köhler und Christian Scheibe haben ihnen einen Raum illuminiert aus lauter Blau. Ein tiefes, durch Licht erschaffenes Blau, ein Blau wie ein noch unbeschriebenes Traum-Papier. Darauf die Projektionen, der Name der jeweiligen Insel, ihre Lage, der Struktur des Buches folgend. Und Christian Georg Fuchs, der Regisseur, folgt seinem Text. Sie haben das nicht dialogisiert, sie erzählen mit dem Text der Autorin. Und den Mitteln des Theaters. So verwandeln die die ruhige Sachlichkeit der Sprache in die Poesie des Theaters.

Amelia Earhard zum Beispiel, die Pilotin, die die Welt umfliegen wollte und im Nirgendwo verschwand, weil die Insel, auf der sie tanken sollte, so klein ist, das eine Wolke sie verdecken kann. Sie singt, das All-American-Girl, der Hype, das „Bei mir bist du schoen“ der Andrews Sisters, das ist die Zeit und ihre Stimmung. Dann klingt der Sound des Motors, dann hebt sie ab, wird abgehoben, die Puppe von den drei Spielern. Präzise die Haltung, die steuernden Gesten der Pilotin, den Text sprechen sie chorisch. Und dann versinkt sie in der Dunkelheit, verschwindet im Nirgendwo.

Szenen müssenvoraussetzungslos funktionieren

Heinrich Bennke, Paul Günther und Maurice Voß führen mit gleichbleibender Präzision die immer gleich Puppe von Peter Lutz, der Gisa Kühn die wechselnden Kostüme entwarf. Diese androgyne Puppe, das ist die Autorin, und das ist auch konsequent, denn diese Reisen unternehmen sie mit ihren Augen, mit ihren Worten. Sie haben 13 der 50 Inseln ausgewählt (Dramaturgie Susanne Koschig), verteilt auf 75 Minuten, was auch ein gutes Timing ergibt, das den Stoff nicht überanstrengt. Da bleibt keine Zeit für einen Anlauf, für eine Entwicklung, die Szenen müssen voraussetzungslos funktionieren, unmittelbar. Und sie tun es. Sie tun es, weil Christian Georg Fuchs mit seinen Spielern für jede Figur, für jede der Miniaturen einen Gestus erfand, ein szenisches Detail, das die Atmosphäre, die Stimmung, das Gemeinte auf den poetischen Punkt bringt.

Die Ausrottung der Steller’schen Seekuh zum Beispiel. Die nun nackte Puppe schwebt, geführt durch die drei Spieler, durch das Wasser wie eine Undine, ein schönes, fragiles Wesen, eine Schönheit, die niemanden bedroht. Und die dennoch, man kann sie verzehren, vernichtet wird, ausgerottet. Eine Harpune, sie zerren das schöne Wesen aus dem Wasser, sie schlagen es tot bis es nicht mehr zuckt. Das war im 18. Jahrhundert, später wird man Robben so erschlagen. Ein Statement für die Schöpfung, verfasst mit den poetischen Mitteln der Kunst.

Oder Brava, die kleinste der bewohnten Kapverdischen Inseln, ein Ort, der keine Urbevölkerung hat und also Sehnsucht nach Geschichte. Drei Männer am Kneipen-Tresen, die Gläser in der Hand, erzählen sich melancholisch ihre Situation, ehe die Sängerin die Morna singt, diesen Sehnsuchtsklang.

Das Haus annonciert diese Inszenierung für Menschen ab 14, das wird eher selten funktionieren. Denn im Eigentlichen werden hier weniger komplette, zusammenhängende Geschichten erzählt – das sind eher Anregungen zum Weiterlesen – als: Welche Schönheiten und Möglichkeiten einem Puppentheater gegeben sind, das ungebunden ins leuchtende Blau der Phantasie schweben darf und kann. Ein Theater, das in seinen guten Stunden selbst eine Sehnsuchts-Insel ist im Meer der medialen Gegenwart.

Nächste Vorstellung: Freitag, 28. Februar, um 10 Uhr