Berlin/Weimar. Zum 100. Geburtstag der Autorin und Illustratorin Elizabeth Shaw.

Blaue Hose, roter Pullover, hellgraues Fell: 1963 wissen alle Kinder endlich, wie der kleine Angsthase aussieht, den sie alle so gut kennen, weil er in jedem von ihnen steckt. Langohrig und pausbäckig bringt ihn Elizabeth Shaw aufs Papier, erzählt seine Geschichte einfach, keck und lustig, so wie Kinder es lieben.

Diesem ersten Kinderbuch der Irin aus Belfast, die am heutigen Montag 100 Jahre alt geworden wäre, sollen 22 weitere folgen, die sie zu einer der beliebtesten Illustratorinnen der DDR machen. Generationen wachsen mit den Bildergeschichten auf, die eine fröhliche Welt zeigen, in der es auch mal Streit gibt, aber stets ein gutes Ende. Geplant ist das nicht: Bevor „Der kleine Angsthase“ erscheint, zeichnet Elizabeth Shaw politische Karikaturen, Alltagsszenen und Por-träts, schreibt Reiseberichte.

Pankow in Ostberlin ist die Wahlheimat der Künstlerin, die selbst in einem geteilten Land aufgewachsen ist: Geboren wird sie am 4. Mai 1920 in Belfast – am Tag vor Heiligabend desselben Jahres wird Irland gespalten. Fortan lebt sie in der protestantischen Hauptstadt Nordirlands mit britischem Pass, denn sechs Grafschaften werden als Provinz Ulster Großbritannien zugeschlagen. Der irisch-republikanische Süden bleibt katholisch und selbstständig.

1933 siedelt die Familie um nach London, Elizabeth Shaw studiert dort Kunst, veröffentlicht erste Zeichnungen in der linksgerichteten Monatszeitschrift „Our Time“ und heiratet 1944 dort René Graetz, den deutschen Maler und Bildhauer. Sie folgt ihm 1946 nach Berlin, in die besetzte Stadt: Shaw und Graetz teilen die Hoffnung vieler Menschen auf ein neues, antifaschistisches Deutschland, wollen an dessen Aufbau mitwirken.

Schon in Zehlendorf, dem ersten Bezirk, in dem sie wohnen, werden sie umworben: Graetz wird Mitglied der KPD und soll Lehrer an der Kunstschule Weimar werden. Deren Direktor, Stalin-Allee-Architekt Hermann Henselmann, rät ab: Er sieht sie als „Großstadtleute“, die in Berlin besser aufgehoben sind.

Also verlassen sie nach drei Jahren Zehlendorf im amerikanischen Sektor und ziehen in den sowjetischen – nach Pankow. „Wir alle waren große Bewunderer Stalins und davon überzeugt, dass alles, was aus Moskau kam, nur Gutes sein konnte, auch wenn es manchmal verwirrend war“, erinnert sich Elizabeth Shaw in ihrer Autobiografie. Der Gefahr seien sie sich nicht bewusst gewesen, der Gefahr, die vom Terror des Stalinismus ausging.

Als der „Angsthase“ erscheint, hat sich Elizabeth Shaw längst einen Namen gemacht. Sie zeichnet politische Karikaturen für die Zeitschrift „Eulenspiegel“ und die Zeitung „Neues Deutschland“, verfasst Reiseberichte für die Zeitschrift „Das Magazin“.

Karikaturen für die Akademie der Künste

Im Auftrag der Deutschen Akademie der Künste karikiert Elizabeth Shaw 1959 deren 43 ordentliche Mitglieder, darunter Anna Seghers, Paul Dessau, Helene Weigel. Sie zeichnet Porträts von Freunden wie dem Grafiker und Fotomontagekünstler John Heartfield oder dem Komponisten Hanns Eisler. Sie illustriert Gedichte und Geschichten von Bertolt Brecht sowie Texte von Mark Twain, James Krüss und Astrid Lindgren.

Im Juni 1953 rollen die sowjetischen Panzer durch Pankow ins Herz von Berlin, dicht an ihrer Wohnung vorbei. Deren Lage macht Elizabeth Shaw ebenso zur Augenzeugin, als 1961 die Mauer gebaut wird. Beide Ereignisse ordnet die leidenschaftliche Kommunistin eher nebenbei ein: Beim Arbeiteraufstand nehmen ihre beiden kranken Kinder Anne und Pa- trick ihre Aufmerksamkeit in Anspruch; und die Mauer sei nicht die erste dieser Art in der Welt, obwohl es wichtig sei, dass Menschen das Gefühl hätten, reisen zu können, auch wenn sie es nicht täten.

Für Elizabeth Shaw stellen Mauer und deutsche Teilung dank britischer Staatsbürgerschaft kein Hindernis dar. Impressionen aus London, Paris, Venedig und New York finden sich in ihren Reiseskizzen für das „Magazin“ ebenso wie Städteporträts aus Ostdeutschland. Dass sie damit gegenüber dem Durchschnitts-DDR-Bürger ein Privileg genießt, ist ihr offenbar durchaus bewusst.

Bildgeschichtenüber den Alltag

Bei ihren Karikaturen hält sie sich nicht zurück: Westdeutschland als Marionette der USA oder in den Fängen aller Alliierten entspricht durchaus der offiziell vorgegebenen Linie.

Aus der Perspektive der Ausländerin hält Elizabeth Shaw aber ebenso die Widersprüche der Nachkriegszeit fest oder zeichnet Bildgeschichten über den Alltag oder die Reihe „Sonntagmorgen“ im „Magazin“.

Im Rückblick nennt sie ihren Nachkriegsidealismus und das unbedingte Befolgen der Parteidok- trin in ihrer Autobiografie „naiv“.

Was Elizabeth Shaw in ihren Lebenserinnerungen jedoch auch bietet, sind Geschichten, die sie so nur im Ostberliner Kulturzirkel oder in Kleinmachnow erleben konnte, einer Art DDR-Künstler-Kolonie. Einen „Träumer realistischer Art“ nennt sie Robert Havemann, als die Situation für den Physiker und Dissidenten immer schwieriger wird. „Die Partei, die Partei hat immer recht“ erklingt, als sie den Komponisten Ernst Hermann Meyer besucht – er arbeitet gerade mit dem Dichter Louis Fürnberg an dem Stück, das zur Lobeshymne der SED werden wird.

Ihre Kinderbücher jedoch sind frei von Politik. Als sie damit anfängt, sind ihre eigenen Kinder weit über das Bilderbuchalter hinaus. „Ich wollte ganz bestimmte Werte wie Mut, Freundlichkeit und die Vorstellung vermitteln, dass man nicht nur für sich selbst lebt. Kinder haben ein ausgeprägtes Gefühl für Gut und Böse und einen starken Gerechtigkeitssinn, bis die Welt der Erwachsenen diese Werte durcheinanderbringt. Einige meiner Geschichten sollen einfach nur Spaß machen, weil Erwachsene häufig so ernst sind, und Kinder lieben nun mal Spaß“, beschreibt Elizabeth Shaw ihren inhaltlichen Anspruch.

Geldnot hingegen ist der Auslöser: „Anfang der 60er-Jahre war unsere finanzielle Lage wieder einmal kritisch, und wir mussten die Ferienplätze zurückgeben, weil wir sie nicht bezahlen konnten, so schrieb ich schnell die Geschichten ‘Der kleine Angsthase’ und ‘Gittis Tomatenpflanze’“, heißt es in ihrer Autobiografie. Beide Bücher werden Bestseller, die klare, heitere und direkte Erzählerin und Zeichnerin Elizabeth Shaw hat ihren Platz in der Buchwelt gefunden.

In Irland jedoch, dem Land, das sie so sehr liebte und nach dem sie sich immer sehnte, ist sie bis zum heutigen Tag eine weitgehend Unbekannte.

Der „Angsthase“ und alle folgenden Kinderbücher geben ihr finanzielle Sicherheit und Schutz vor Repressalien, die andere Künstler treffen, auch ihren Mann. Sie gehört jetzt zur Kultur-Elite, repräsentiert die DDR in der Welt – auch als ausländische Künstlerin, die diesen deutschen Staat als Lebensmittelpunkt gewählt hat.

Das Wildschwein Walter wird das Licht der Welt erblicken ebenso wie Zilli, Billi und Willi, die als „Die drei kleinen Schweinchen“ ursprünglich der englischen Märchenwelt entstammen.

Viele Ideen findet sie sie im eigenen Leben: Weil sie als Kind sehr oft Angst vor etwas hatte, entsteht der „Angsthase“. Als sie noch in Belfast lebt, wünscht sie sich sehnsüchtig einen Garten – so reift „Gittis Tomatenpflanze“. „Häufig trug ich den Gedanken an ein Thema oder an eine Figur lange mit mir herum, ehe daraus ein Buch wurde“, schreibt Elizabeth Shaw.

Alle ihre Kinderbücher schreibt sie auf Deutsch, obwohl sie sich in der Sprache nicht heimisch fühlt. Es dauert bis zum Tod ihres Mannes 1974, ehe sie ihr Deutsch auf Vordermann bringt und sich intensiver dem Land annähert, in dem sie seit fast 30 Jahren lebt und seit gut zehn Jahren zur Kultur-Elite gehört.

„Für den einzelnen, der sich in einem fremden Land niedergelassen hat, ist das Leben oft nicht leicht, aber das hat auch positive Seiten. Man lernt, flexibel und tolerant zu sein und sich von den Fesseln der Nationalität mit ihren tief verwurzelten Vorurteilen zu befreien, darin liegt das humanistische Element“, sinniert sie.

Ihre Autobiografie verfasst sie auf Englisch und lässt sie übersetzen. Das Werk erscheint nur Monate, bevor die DDR aufhört zu existieren. „Eine neue Generation zeigt Mut“, notiert Elizabeth Shaw.

Die deutsche Wiedervereinigung gibt ihr die Chance, ihren erwachsenen Kindern die irische Heimat zu zeigen. Aber die Gesundheit macht Elizabeth Shaw einen Strich durch die Rechnung. Nach mehreren Schlaganfällen stirbt sie am 27. Juni 1992 in Berlin.

Ihre Tochter fährt zum ersten Mal nach Irland, als sie den letzten Willen ihrer Mutter erfüllt: Sie verstreut deren Asche über der Irischen See.