Erfurt. Der aktuelle Kulturtalk wirft einen Blick auf die bevorstehenden jüdisch-israelischen Kulturtage und fragt nach Identität und Geschichte.

Zitronen? Nicht ganz. Es sind Cedrat-Früchte, die vom Plakat herunter leuchten. Im Judentum gehören sie unverzichtbar zum vorgeschriebenen Feststrauß beim Laubhüttenfest. Jüdische Auswanderer brachten sie deshalb vor fast 2000 Jahren nach Europa. Eine Frucht von liturgischer Bedeutung. Was erklärt, warum dieser botanische Anblick auf Plakaten und Flyern für die Tage der jüdisch-israelischen Kultur in Thüringen wirbt. Am 30. Oktober werden sie eröffnet, inzwischen zum 27. Mal.

Um sie geht es in der aktuellen Ausgabe des Kulturtalks von Salve TV und Thüringer Allgemeine. Gäste im Studio: Jascha Nemtsov, Lehrstuhlinhaber für die Geschichte der jüdischen Musik an der Musikochschule Weimar, und der Programmchef der Kulturtage, Michael Dissmeier. Moderiert wird die Runde von Tiago de Oliveira Pinto, ebenfalls Professor an der Weimarer Musikhochschule, und Kulturredakteur Michael Helbing. Ein Gespräch über das Eigene im Fremden, über jüdische Diaspora, jüdische Identität und was Israel für sie bedeutet. Denn das moderne Israel prägt in diesem Jahr als Thema die Kulturtage. Der Staat, aus dem beinahe täglich beunruhigende Schlagzeilen kommen, das Land, das nicht zur Ruhe kommt.

„Israel ist für die jüdische Diaspora existenziell.“Jascha Nemtsov.
„Israel ist für die jüdische Diaspora existenziell.“Jascha Nemtsov. © Esther Goldberg

Genau deshalb, bemerkt Programmchef Dissmeier, habe man sich zu diesem Fokus entschlossen. Denn was an Berichterstattung aus Israel zu uns dringt, sei in der Regel vom Konflikt in der Region dominiert. Ein drängendes Problem, zweifellos, doch das allein sei es doch nicht, was Israel ausmacht. Die einzige Demokratie in der Region, die bei allen Auseinandersetzungen den Alltag einer multiethnischen Gesellschaft lebt.

Hinzu kommen die vielen verschiedenen Entwürfe, wie jüdische Tradition und jüdischer Glaube gelebt werden. Eine Vielfalt, die beim Eröffnungskonzert ausgelotet wird: 18 Aliyot. Die israelische Sängerin Noam Vazana widmet jeder der 18 Einwanderungswellen, die es seit Beginn des 20. Jahrhunderts nach Israel gab, und den Kulturen die sie mitbrachten, ein Lied. Angefangen von den Einwanderern aus Osteuropa, über Juden aus Marokko oder Jemen bis hin zur jüngsten Einwanderungswelle aus Frankreich. Nicht nur eine musikalische, auch eine historische Reise durch Israel.

"WeltkulturThüringen" - Der TA-Kulturtalk (Folge 16)

weitere Videos

    Mittlerweile, sagt Jascha Nemtsov, lebt fast die Hälfte der jüdischen Weltbevölkerung in Israel und es werden tendenziell mehr, das Leben in der Diaspora schrumpft. Für diese Menschen ist Israel ein existenzieller Bezugspunkt für Juden, sagt Jascha Nemtsov, der das aus eigener Erfahrung weiß. Er wurde im sibirischen Magadan geboren und wuchs in St. Petersburg auf. Jüdische Identität, erzählt er, bedeutete in erster Linie Stigmatisierung. Eine Identität, der man nicht entrinnen konnte, weil sie schon im Ausweis stand. Nationalität: Jude. Das Judentum wurde ausschließlich negativ im Kontext mit Israel thematisiert. Auf der anderen Seite gab es keinerlei positive Inhalte, jüdische Kultur fand praktisch nicht statt. Für uns, erinnert sich Professor Nemtsov, war Israel der Anker. Eine Vergewisserung, die sie verbunden hat, so hat er schon als Kind empfunden.

    Seit den 90er-Jahren lebt er in Deutschland. Bis vor einigen Jahren noch ertönte, wenn er einen Anruf erhielt, „Hava Nagila“ aus seinem Handy, die unverkennbare jüdische Hymne an das Leben. Den Klingelton hat er inzwischen verändert, auf Bitte seiner Frau. Sie fürchtete, es könnte ihn in unangenehme Situationen bringen. Das bringt die Runde schnell auf die Gegenwart hierzulande. Jascha Nemtsov sagt es so: Es gibt öffentliche Räume, die für Juden nicht mehr unproblematisch sind. Von einigen seiner Studenten, die mit Kippa unterwegs sind, hat er von unangenehmen Begegnungen erfahren. Beunruhigende Entwicklungen und Anlass zu großer Scham, sagt Michael Dissmeier. Das „Nie wieder“, das lange Konsens war, scheine nicht mehr unumstritten zu gelten. Auch dies sei für die Veranstalter der Kulturtage ein wichtiger Impuls: Über jüdische Kultur erzählen und zeigen, dass sie untrennbar zu Deutschland gehört.

    Nicht nur mit Blick auf das Andere, sondern auf die eigenen Wurzeln, auf eine Kultur, die einmal zu diesem Land gehörte. Wir Deutschen, bemerkt Michael Dissmeier, haben uns selbst eine Leerstelle gerissen, etwas zerstört, was einst zu uns gehörte. Er schwärmt von der alten Synagoge in Berkach, dort wird der Leipziger Synagogalchor mit seinen Liedern die Vielfalt jüdischer Volksmusik vorstellen. Wer mag, kann darin schon einen kleinen Vorgriff auf das Themenjahr „900 Jahre jüdisches Leben in Thüringen“ sehen, das im Oktober 2020 beginnt. Denn dieser einzigartige Ort im Dornröschenschlaf, wie der Programmchef Berkach seine Synagoge nennt, erzählt auch vom einstigen jüdischen Leben im ländlichen Südthüringen, von dem viele Menschen gar nichts wissen.

    „Wir wollen lebendige jüdische Kultur zeigen.“Michael Dissmeier
    „Wir wollen lebendige jüdische Kultur zeigen.“Michael Dissmeier

    Einhundert Veranstaltungen an 24 Orten. Auch diese Breite ist Konzept. Viele Veranstaltungen werden von Vereinen, Organisationen oder einzelnen Akteuren getragen. Kooperationen gibt es auch mit dem Weimarer Yiddish Summer und den Achava-Festspielen. Letzte sind gerade erst zu Ende gegangen, die Kulturtage sind das letzte von drei jüdisch geprägten Festivals im Jahreslauf.

    Was die Moderatoren auf die Frage bringt, ob das kleine Thüringen drei ähnlich ambitionierte Festivals tragen kann und nach ihrer Unterscheidbarkeit. Die ist für Programmchef Dissmeier keine Frage, er verweist auf die doch sehr unterschiedlichen Konzepte. Für Jascha Nemtsov liegt die Begründung beim Publikum: Solange Menschen Kulturveranstaltungen annehmen, haben sie ihre Berechtigung.

    Die Sendung wird am heutigen Mittwoch, 18.20 Uhr, bei Salve TV ausgestrahlt und mehrfach wiederholt. Im Internet gibt es den Talk unter: thueringer-allgemeine.de/salve und salve.tv