Henryk Goldberg verneigt sich vor Volkhard Knigge.

Es war heute vor 75 Jahren. Um 14.15 Uhr rief eine Stimme das Unfassbare, das Unbegreifliche über den Ettersberg: „Kameraden, wir sind frei!“. Manche der Überlebenden konnten nicht mit den Kameraden durch das Tor in die Freiheit laufen, sie waren zu schwach. Und manche waren zu klein, sie wurden getragen.

Wie Stefan Jerzy Zweig, vier Jahre alt, das berühmteste der überlebenden Kinder von Buchenwald. Der gerettete Junge gewann weltweite Bekanntheit durch Bruno Apitz, der eindrucksvoll erzählte, wie man „Nackt unter Wölfen“ überleben konnte. Man konnte es manchmal auch, weil andere an die Stelle des Todgeweihten traten.

Als Volkhard Knigge, der die Gedenkstätte Buchenwald seit 1994 leitet, diesen „Opfertausch“ thematisierte und so benannte, da überzog ihn Stefan Jerzy Zweig mit absurden Verdächtigungen und den Beleidigenden selbst desavouierenden Beleidigungen, schließlich mit Prozessen. Wer Knigge ein wenig kennt, mag erahnen, wie ihn die irrationale, mit viel Selbstverleugnung ertragene Polemik getroffen haben muss. Diese Spannung von grundhaftem Respekt gegenüber allen Überlebenden und wissenschaftlicher Rationalität löste er auf, indem er, auch das eine Art Selbstverleugnung, einem gerichtlichen Vergleich zustimmte, den inkriminierten Begriff „Opfertausch“ in Interviews nicht mehr zu verwenden. „Weinen bildet nicht“, hat er einmal gesagt, und wer dahinter einen Mangel an Empathie vermutet, denkt so falsch, wie es falscher gar nicht sein kann.

Wenn es denn einmal ein Ranking gäbe, welches der für Thüringen wichtigste Intellektuelle nach der Wende gewesen sei, ich wählte, wohl ex aequo mit Bernd Kauffmann, Volkhard Knigge. Seine Stimme, seine Diktion, seine ganze Ausstrahlung verbreiten Kühle und Distanz, Bedachtheit und Souveränität. Als hätte das Wesen des Mannes seine physische Erscheinung geprägt. Es sind genau diese Eigenschaften des Historikers, die ihn werden ließen, was er ist. Und mit ihm die Gedenkstätte Buchenwald.

Als er diese Direktion 1994 übernahm, da war der Umgang mit der Gedenkstätte noch immer eine so offene wie sensible Frage. Die Hagiografie, mit der die DDR die Geschichte des Lagers überwölbte, konnte so nicht fortgeschrieben werden, aber in welcher Weise künftig auf dem Ettersberg gedacht sein sollte, das war unklar. Knigge geriet gleichsam zwischen die Fronten, und das kriegerische Bild ist sehr angemessen.

Denn es war ein ideologischer Krieg, ausgetragen zwischen den Opferverbänden des Konzentrationslagers und denen des sowjetischen Speziallagers Nr. 2. Die Existenz dieses Lagers war in der DDR konsequent tabuisiert, die Forderung nach einer entsprechenden Repräsentation also sehr angemessen. Aber Knigge verweigerte eine Gleichrangigkeit des Gedenkens, er unterschied, mit Blick auf ihre jeweilige Wirklichkeit, zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Lager. Die daraus folgenden Argumentationen und Debatten trugen ihm schließlich eine Anzeige des Thüringer Verbandes der Opfer des Stalinismus ein, „Volksverhetzung“ hieß der Vorwurf, eine Absurdität und eine Unverschämtheit dazu. Und im Gegenzug warfen ihm Opferverbände des KZ und deren Funktionäre vor, er wolle den „Antifaschismus zerschreddern“, das war nicht weniger absurd. Aber, er hat einmal selbst darauf hingewiesen, als Leiter dieser Gedenkstätte wird so ein Mann selbst zur Symbolfigur, zum Symbol, wie dieser Verbrechen zu gedenken sei.

Heute sind diese Debatten Geschichte, und dass die Arbeit der Gedenkstätte nun in ruhigem, unaufgeregtem Flusse ist – abgesehen von einem internen Rumoren, das von außen kaum zu bewerten ist –, das ist das Werk und die Leistung von Volkhard Knigge. Thüringen verdankt ihm viel, unter anderem den wichtigen Umstand, dass Buchenwald als ein Symbol deutscher Barbarei gilt und nicht als der Ort gleichrangiger deutscher und sowjetischer Brutalität.

Volkhard Knigge, der in diesem Monat seine Arbeit beendet, erhielt eine Vielzahl nationaler und internationaler Ehrungen. Sein größtes Ehrenzeichen aber ist die Weise des Erinnerns auf dem Ettersberg.

Sehr geehrter Herr Professor, lieber Herr Knigge: Herzlichen Dank.

Und Glück auf den Weg.