Erfurt. Zwei Graphic Novels über das Leben nach dem Konzentrationslager zeigen mit beklemmendem Bezug zur Gegenwart ein ewig aktuelles Thema. Wir haben Bilder aus den Büchern.
Wie lebt man ein Leben, nachdem man das Unvorstellbare überlebt hat? Eine Frage, an der nicht wenige verzweifelt sind. Deutlich weniger berichten auch darüber.
Boris Pahor etwa hat es getan, in seinem berühmten Roman „Nekropolis“ von 1967: eine Reflexion über die Situation und sein Überleben in den Konzentrationslagern oder ihren Außenlagern Natzweiler-Struthof, Dachau, Mittelbau-Dora, Markirch, Harzungen und Bergen-Belsen.
Sechs Stationen, in die Pahor von Frühjahr 1944 bis zum Kriegsende deportiert wurde – als Angehöriger der slowenischen Minderheit im italienischen Triest und als Widerstandskämpfer. Sechs Stationen, dem Tod näher als dem Leben.
Berühmter Roman in düstere Bildsprache übersetzt
Der Illustrator Jurij Devetak, Jahrgang 1997, hat Pahors Schilderungen ein gutes halbes Jahrhundert nach seiner Buch-Premiere in seiner ersten Graphic Novel in eine düstere, beklemmende Bildsprache übersetzt. „Nekropolis“, so auch der Titel der gezeichneten Adaption (bei Amazon* oder bei JPC* oder bei Thalia*), nimmt sich Versatzstücke des Romans und folgt dem Schriftsteller beim Besuch einer Gedenkstätte in einem ehemaligen KZ und somit den Erinnerungen, den Schuldfragen, kurz: den Geistern der Vergangenheit.
Die Rückblicke wie auch das Leben im Hier und Jetzt sind in Schwarz-Weiß gehalten, gespenstisch getuscht; alles liegt wie ein Schatten auf der Seele. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen im Strom der Gedanken, der Gefühle, des Zeichenstifts. Dazu passt das dünne Papier, auf das die düsteren Bilder gewalzt wurden, zerbrechlich wirken sogar die Seiten unter der Last der Schicksale, von denen sie berichten.
Als Zeuge des Holocausts blieb es eine lebenslange, nicht selbst gewählte, Aufgabe Pahors sich mit dem Thema zu beschäftigen. Der Schriftsteller starb mit 108 Jahren am 30. Mai 2022, drei Monate bevor die Graphic Novel erscheinen sollte. Er habe viele der Bilder noch gesehen und abgesegnet, schreibt Devetak im Nachwort. Eine der markantesten Szenen in dem Buch ist der Galgen, neben dem steht: „Der Mensch gewöhnt sich an alles. Wir waren abgestumpft.“
Das Werk Pahors und seine eindrückliche grafische Entsprechung zeigen aber auch: Vergessen kann die Seele derlei Pein trotzdem nicht.
Emmie Arbel wird mit fünf Jahren deportiert
Einen ähnlichen Ansatz wählt Barbara Yelin für ihre Graphic Novel „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“ (bei Amazon* oder bei JPC* oder bei Thalia*), die von den Erinnerungen einer Überlebenden des Holocausts erzählt. Die Autorin und Illustratorin führte Hunderte Gespräche mit Emmie Arbel, die heute in Israel lebt, in der Nähe von Haifa.
Das Leben nach dem KZ – gezeichnete Geschichte
Die in Den Haag geborene Jüdin wird 1942 mit fünf Jahren deportiert, überlebt die KZ Ravensbrück und Bergen-Belsen. Die Nazis töten ihre Familie, die Mutter stirbt wenige Tage nach der Befreiung an Entkräftung. Nur Emmie und ihre zwei Brüder überstehen die Lager.
Das Leben geht zwar weiter, allerdings auch die Traumata.
Es ist ein Buch über den Holocaust, über das Nachkriegsdeutschland und den jungen Staat Israel. Es ist vor allem aber ein Buch, dessen Intensität kaum auszuhalten ist. Yelin fragt sich im Nachwort wie viel Leid und Schmerz ein Mensch ertragen, wie er all das überleben könne. Die Arbeit an dem Buch sei für sie und Arbel ein Kraftakt gewesen. Am Ende habe man nicht mehr gekonnt, die Kraft „ist ausgeschöpft“, schreibt sie. Man glaubt es mit jeder Zeile und jedem Bild, die sich tiefer in das Bewusstsein und das Leben der Protagonistin schälen.
Diese Lebens- ist auch eine Leidensgeschichte
Yelin stellt ihre Interviews und Treffen mit Arbel als Rahmen für die Erzählung. Die Schwierigkeiten, über all das Erlittene zu sprechen, sind ein Schwerpunkt dieser Lebens- und gleichsam Leidensgeschichte, die nicht weniger ist als ein historisches Zeugnis des 20. Jahrhunderts – und der Gegenwart, nicht nur wegen der aktuellen Situation in Israel und Gaza. Die Dramaturgie folgt keinem Plot, sondern dem unsteten, nichtlinearen Verlauf eines Menschenlebens.
Die Erinnerungen Arbels verschwimmen, fließen in den Bildern Yelins ineinander in ein Meer aus skizzenhaften Bewegungen und aquarelligen Farbtönen. Arbel sagt, sie wisse nichts – immer wieder. Aber die Erinnerung sind wie Wellen, die kommen und gehen. Mal sanft, mal stark.
Da ist der Holocaust. Doch die späteren Schicksale schneiden ebenso unbarmherzig in den Lebensmut – die Misshandlung in der Pflegefamilie, der Tod der Tochter.
Es gibt Menschen, die sind an weniger zerbrochen. „Manchmal glaube ich selbst nicht, dass ich noch am Leben bin“, sagt Emmie Arbel in einer Schlüsselszene des Werks. Es ist der Gedanke, der einem mit jeder Seite des Buchs stärker beschäftigt. Und die Erkenntnis, dass man unterschiedliche Arten des Leids nicht gewichten kann. Höchstens aushalten. – Wenn man stark genug ist. Stark wie Emmie Arbel. Eine Überlebende.
Boris Pahor, Jurij Devetak: Nekropolis, Schaltzeit Verlag, 176 Seiten, 25 Euro
Barbara Yelin: Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung, Reprodukt, 192 Seiten, 29 Euro
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