Weimar. Der Philosoph und Rundfunkjournalist Jürgen Wiebicke kommt am Samstag zu den Lesarten nach Weimar. Im Interview spricht er über seinen Leitfaden „Zehn Regeln für Demokratie-Retter“.

Der Autor und Philosoph Jürgen Wiebicke macht deutlich, dass Demokratie kein Selbstläufer ist, sondern den Einsatz der Bürger erfordert. Was nötig ist, das stellt er bei den Weimarer Lesarten am Samstag, 13. April, um 19.30 Uhr in der Weimarer Stadtbücherei im Gespräch mit Christoph Schmitz-Scholemann vor.

Sie sagen: Wir müssen die Demokratie von unten neu beleben. Wie kann das gehen?

Der erste Schritt beginnt im eigenen Kopf: Ich muss mich lösen von der Vorstellung, dass die Welt um mich herum schon fertig ist und von mir nicht mit gestaltet werden kann. Denn sonst ist man immer nur in der Rolle des Zuschauers oder sogar des Opfers. Ich glaube sogar, dass es bei vielen momentan eine Neigung gibt, sich selber zum Opfer zu machen. Das hat auch etwas sehr Bequemes. Ich darf anklagen, muss aber selber nichts tun. Der zweite Schritt beginnt in der eigenen Umgebung: Dort kann ich nach Menschen suchen, die auch interessiert daran sind, dass unsere Gesellschaft nicht geprägt ist von Frust, Einsamkeit und Hässlichkeit. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass lokale Demokratie dort am besten funktioniert, wo Menschen sich finden, die für etwas sind und nicht so sehr gegen etwas.

Und welche Rolle sollen dabei Ihre zehn Regeln spielen?

„Zehn Regeln für Demokratie-Retter“, das soll nicht heißen, dass ich der König von Deutschland bin, der die Regeln setzt. Es ist eher spielerisch gemeint. Als Anregung, über kleine Leitsätze nachzudenken, an denen man sich orientieren kann. Ich bemerke nämlich im Moment, wie viele sich verunsichern lassen und von der Angst gepackt sind. Eine Regel heißt bei mir: „Mache dir die Welt zum Dorf“. Da geht es darum, dass wir lokale Netzwerke brauchen, in denen Menschen die Erfahrung machen, dass es auf sie ankommt. Eine andere Regel: „Fürchte dich nicht vor rechten Schein-Riesen“. Denn wir brauchen dringend mehr Selbstbewusstsein und Zuversicht als Demokratie-Retter.

Warum reicht es nicht, wenn der Bürger wählen geht? In Thüringen in diesem Jahr gleich drei Mal: auf kommunaler Ebene, Europaparlament und Landtag. Es kostet ja auch Zeit, sich vorher eingehend zu informieren.

Wer keine Lust hat, wählen zu gehen, wird dazu nicht gezwungen.Das ist nur eine von vielen Freiheiten, die wir fälschlich für selbstverständlich halten. Dass sie fehlen, merken wohl viele erst, wenn sie weg sind. Trotzdem ist es ziemlich dumm, nicht wählen zu gehen. Anderswo werden wir um dieses Recht beneidet. Und die fehlende Zeit ist die bequemste Ausrede, die sich denken lässt. Da würde ich dann zurückfragen: Führst du tatsächlich ein so unfreies Sklavenleben, dass du dich nicht mehr dafür interessieren kannst, in welchen Verhältnissen du leben willst und wer dich regiert? Trotzdem stimmt es, dass das Wählen nicht reicht. Demokratie ist nicht nur eine Regierungsform, sondern eine Lebensform. Im Alltag kommt es darauf an, den Mund aufzumachen, wenn Rechte verletzt werden.

Gehören die jungen Demonstranten bei „Fridays for Future“ auch in die Kategorie Demokratie-Retter?

Definitiv, denn Politik beginnt damit, dass man sichtbar wird und die Stimme erhebt. Jede Generation benötigt eine Art Erweckungserlebnis, um die Kraft des gemeinsamen Handelns zu spüren. Dass man nicht alleine und ohnmächtig ist. Daraus können spannende Biografien entstehen.

Welche Rolle messen Sie der direkten Demokratie zu? Soll es auf allen Ebenen Bürger- beziehungsweise Volksentscheide geben?

Demokratische Experimente in allen Ehren, aber das Brexit-Chaos lehrt das Gegenteil. Ich persönlich wäre bereits überfordert, wenn ich über den Haushalt meiner Stadt abstimmen müsste. Wir brauchen schon Politik-Profis, nur müssen es die richtigen sein. Es gibt keine einzige Demokratie auf der Welt, die ohne Parteien auskommt. Also sollten wir aufhören mit pauschaler Parteienschelte und lieber viele ermuntern, sie zu erobern und zu verbessern.