München/Bad Nenndorf (dpa/tmn). Es ist ein Moment, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt, auch am heißesten Sommertag: Ein Kopf, der vorhin noch über der Wasseroberfläche des Sees war, ist verschwunden. Und jetzt?

Mindestens 355 Menschen sind im Jahr 2022 in Deutschland durch Ertrinken ums Leben gekommen. Das zeigen Daten der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG). Sechs Fragen und Antworten rund um das Ertrinken:

Was sind die größten Mythen übers Ertrinken?

„Das Baywatch-Syndrom“, sagt Benjamin Taitsch, stellvertretender Vorsitzender der Bayerischen Wasserwacht. Das ist die Annahme vieler Menschen, dass Ertrinken actionreich mit lauten Hilferufen abläuft. „Dabei passiert es in aller Regel sehr, sehr leise.“

Kraft für wildes Rumrudern mit den Armen - die bleibt oft nicht mehr. „Die Menschen haben alles andere zu tun, als auf sich aufmerksam zu machen. Sie kämpfen ums Überleben“, sagt Philipp Pijl, Teamleiter Einsatz von der Bundesgeschäftsstelle der DLRG.

Ein weiterer Mythos: „Viele Menschen glauben, dass primär Nichtschwimmer ertrinken. Dabei ist das Schwimmenkönnen längst nicht der einzige Faktor“, sagt Philipp Pijl. Das zeigen auch die Daten: Wer erwartet, dass vor allem Kinder und Jugendliche ertrinken, irrt. „Der Schwerpunkt liegt eher auf Männern mittleren und höheren Alters.“ Leichtsinn, Alkohol oder eine plötzliche Kreislaufschwäche - all das kann auch geübte Schwimmer in Lebensgefahr bringen.

Was genau passiert im Körper, wenn jemand ertrinkt?

Beim Schwimmen im Fluss wird die Strömung unterschätzt. Man ist betrunken zu weit rausgeschwommen. Oder das Kind ist gestolpert und mit dem Gesicht ins Wasser gefallen. Wie auch immer es zu einem Ertrinkungsunfall kommt: Das Problem ist der Sauerstoffmangel, der im schlimmsten Fall zum Tod führt. Denn unsere Organe - allen voran das Gehirn - können nur funktionieren, wenn sie ausreichend mit Sauerstoff versorgt sind.

Philipp Wolf, Landesarzt der Wasserwacht Bayern, skizziert einen Ertrinkungsunfall am Beispiel eines Wassersportlers, der an einem Sommertag auf einem SUP Board unterwegs ist:

Es ist heiß, sein Körper ist aufgeheizt. „Fällt er nun unerwartet ins Wasser, kommt es zu einem Kälteschock, wofür das Wasser nicht einmal besonders kalt sein muss“, sagt Wolf. Die Folge: Der Wassersportler fällt in eine Art Starre. Er atmet reflexartig und tief mit einem Schnaufen ein. So wie man es tut, wenn man nach dem Saunabesuch ins Eisbad taucht.

„Dadurch gelangt Wasser an die Stimmritzen und die Stimmbänder - und die machen zu“, sagt Wolf. Dieser sogenannte Stimmritzenkrampf ist ein Schutzmechanismus. Er verhindert, dass Wasser in die Lunge gelangt.

Aber durch den Stimmritzenkrampf kann der Wassersportler nun nicht mehr schreien. Er bekommt Panik. „Er kriegt keine Luft mehr, hat aber auch keine Luft mehr“, beschreibt der Mediziner. Durch den Sauerstoffmangel kommt es mit der Zeit zu Bewusstlosigkeit, der Wassersportler geht unter. „In solchen Fällen findet man in der Regel kein Wasser in der Lunge - es ist ein trockenes Ertrinken“, so Wolf.

Es kann aber auch sein, dass beim Ertrinken viel Wasser in die Lunge gelangt. Zum Beispiel dann, wenn jemand beim Schwimmen einen medizinischen Notfall wie einen Herzinfarkt erleidet. „Wenn es ein leichter Herzinfarkt ist, kann die Person vielleicht noch schwimmen und bekommt Panik. Bei einem schweren Infarkt ist sie nach wenigen Sekunden unter der Wasseroberfläche“, sagt Philipp Pijl.

Wie erkenne ich eine ertrinkende Person?

Dafür einen Blick zu haben, das ist für Laien gar nicht so einfach. Auf eine kritische Situation hindeuten können laut Benjamin Taitsch solche Beobachtungen: „Die Schwimmbewegungen sind nachlässig. Sie sind im Geiste noch da, aber der Kopf geht schon leicht unter Wasser, wodurch das Atmen nicht mehr möglich ist.“ Auch wenn jemand auf einmal deutlich schnellere oder langsamere Schwimmbewegungen macht, kann das laut Pijl ein Anzeichen sein.

Ein Sonderfall sind Kinder. „Bei Kindern sieht man in aller Regel keine Panikreaktion. Sie machen sich steif und gehen einfach unter“, sagt Wolf. Zwischen dem vergnügten Spielen am Seeufer und dem Untertauchen des Kopfes liegen oft nur Sekunden. Deshalb ist es auch so wichtig, dass Eltern ihren Nachwuchs nicht ohne Aufsicht am Wasser spielen lassen.

Was mache ich, wenn ich Zeuge oder Zeugin eines Ertrinkungsunfalls bin?

Je früher es gelingt, die ertrinkende Person aus dem Wasser zu holen, desto besser stehen die Chancen, dass sie überlebt und keine langfristigen Schäden davonträgt. Also gilt: „Sobald man das Gefühl hat, dass etwas nicht in Ordnung ist, sollte man nicht zögern, den Notruf 112 zu wählen“, sagt Benjamin Taitsch.

Wichtig dabei: Beschreiben, wo man sich befindet, und sich gut merken, wo die Person untergegangen ist. Gibt es eine Wachstation, die besetzt ist, sollte man die Rettungsschwimmerinnen und -schwimmer informieren.

Sind (noch) keine professionellen Retter vor Ort, muss man nun einschätzen: Welche Maßnahmen traue ich mir zu? Vielleicht gibt es einen Rettungsring. Oder kann man mit einem SUP zur Unglücksstelle paddeln, damit die eintreffenden Rettungskräfte direkt Bescheid wissen, wo sie ist. Vielleicht ist man im Schwimmen aber auch so sicher, dass man versuchen möchte, die Person ans Ufer zu holen.

„Wichtig: Man sollte nur tun, was man sich selbst zutraut“, sagt Benjamin Taitsch. Denn: Schnell passiert es, dass man bei einem Rettungsversuch selbst in Lebensgefahr gerät. Denn wer als Ertrinkender in Panik ist, klammert sich mit Kraft an allem fest, was Rettung verspricht.

Was ist wichtig, wenn ich einen Rettungsversuch wage?

„Ist derjenige noch ansprechbar, dann kann ich ihm schon beim Anschwimmen sagen: „Ich bin gleich bei Ihnen, ich kann Ihnen helfen“, sagt Pijl. Das beruhigt.

Ein klassischer Rat lautet: Ertrinkende von hinten anschwimmen, damit man von ihnen nicht in die Tiefe gezogen werden kann. Philipp Pijl hat allerdings einen Einwand: „Wer noch bei Bewusstsein ist, bekommt dann noch mehr Panik, wenn er von hinten einfach gegriffen wird.“ Er rät daher: Mit Abstand von vorn anschwimmen und erklären, dass sich gleich von hinten nähert und unter den Arm greift.

Es gibt aber noch andere Möglichkeiten, dem Ertrinkenden etwas Sicherheit zu verschaffen - mit etwas Abstand. Wolf rät, Pullover, Jacken, Holzstöcke oder auch das Badehandtuch zu nehmen und es dem oder der Ertrinkenden zuzuwerfen. „Das Hilfsmittel muss den Ertrinkenden auch gar nicht tragen. Aber er hat es in der Hand und man hat bessere Chancen, ihn zur Not irgendwo hinzuziehen“, sagt Philipp Wolf. „Und wenn es nur das seichte Gewässer ist, wo man selbst stehen kann.“

Die Person ist aus dem Wasser gezogen. Wie sieht nun Erste Hilfe aus?

Ist die Person bewusstlos, ist das Wissen aus Erste-Hilfe-Kursen gefragt. Genauer gesagt: die Herzdruckmassage, die dafür sorgt, dass der restliche Sauerstoff im Blut durch den Körper zirkulieren kann.

Die Herzdruckmassage sollte im besten Fall mit einer Mund-zu-Nase- oder Mund-zu-Mund-Beatmung kombiniert werden. Philipp Wolf rät, die Person zunächst fünfmal zu beatmen. Hintergrund: „In den Lungen ist kein Sauerstoff mehr, da reicht das Drücken dann alleine nicht. Es muss irgendwie Sauerstoff in die Lunge rein.“ Die Reanimation führt man so lange durch, bis die eintreffenden Profis übernehmen.

Diese goldenen Regeln können Ertrinkungsunfälle verhindern

So lassen sich Ertrinkungsunfälle vermeiden, bei den Kleinen und bei den Großen:

  • Das Kind in einen Schwimmkurs schicken

Für Benjamin Taitsch von der Bayerischen Wasserwacht ist das beste Mittel, Badeunfälle zu vermeiden, ein Schwimmkurs für Kinder. Dort lernt der Nachwuchs nicht nur das Schwimmen, sondern gewöhnt sich auch an Wasser. Das kann den Kleinen im Fall der Fälle helfen, nicht so schnell in Panik zu geraten.

  • Kinder nicht aus den Augen lassen

Das Kind muss nur beim Spielen am Seeufer ausrutschen und mit dem Kopf ins Wasser fallen - schon kann es kritisch werden. „Kinder unbeaufsichtigt am Wasser - bei dem Anblick haben wir in allen Wachstationen Angst“, sagt Philipp Wolf, Landesarzt der Bayerischen Wasserwacht. Sein Appell an Eltern: Die Kinder nicht aus den Augen lassen und das Smartphone und andere Ablenkungsquellen beseitepacken.

  • Sich bei langen Schwimmstrecken absichern

Wer alleine längere Strecken im See schwimmen will, kann laut Wolf eine Schwimmboje mitnehmen. Mit dem Hilfsmittel kann man sich über Wasser halten, sollten Arme und Beine schlappmachen.

  • Das SUP an sich befestigen

Auch beim Stand-up-Paddling droht Ertrinkungsgefahr, wenn man, aufgeheizt von sommerlichen Temperaturen, in den kalten See fällt. Wolf rät daher: die Halteleine am Knöchel oder Bein befestigen. „Wenn der kleinste Wind weht, das SUP vor einem hergetrieben wird und man keine Kräfte mehr hat, kommt man dem Ding nicht mehr hinterher.“

  • Sich bei anderen abmelden

Im besten Fall sitzt jemand am Ufer und hat immer mal wieder einen Blick auf das Wasser, wenn man dort eine größere Runde schwimmt. Und wenn man ganz alleine ist? „Dann sollte man jemandem Bescheid sagen: Ich bin eine halbe Stunde schwimmen“, rät Philipp Pijl von der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG). Denn dann hat jemand Sorge, wenn man sich nach der vereinbarten Zeit nicht gemeldet hat. Und die Person kann gegebenenfalls Rettungskräfte alarmieren.

  • Die klassischen Baderegeln beachten

Nur baden gehen, wenn man sich wohlfühlt. Nur dann mit dem Kopf voran in Gewässer springen, wenn man sicher weiß, dass sie auch tief genug sind. Und: Sich als Schwimmer oder Schwimmerin von Booten und Schiffen fernhalten. Wer sich an diese klassischen Baderegeln hält, badet laut der DLRG sicherer - und kann die Gefahr von Ertrinkungsunfällen verringern.