Heiligenstadt. Forschung zum Anfassen: Wenn die Luft in der Zelle zu knapp wird. Wie merkt der Körper, wenn ihm Sauerstoff fehlt?

Am 7. Oktober 2019 wurde vom Karolinska-Institut in Stockholm bekanntgegeben, dass der diesjährige Nobelpreis für Medizin an die Forscher William Kaelin (USA), Peter Ratcliffe (Großbritannien) und Gregg Semenza (USA) geht. Sie forschen an der Frage, wie der Organismus es schafft, das unterschiedliche Angebot an lebenswichtigem Sauerstoff zu messen und sich daran anzupassen. Was aber steckt hinter diesem Phänomen, das der Körper so meisterhaft regelt?

Ohne Sauerstoff geht für unseren Körper gar nichts. Wir atmen, und der Sauerstoff wird über das Blut zu den Zellen im Körper transportiert, die ihn dringend benötigen. Leider steht den Zellen in unserem Körper aber nicht immer eine gleichbleibend hohe Sauerstoffmenge zur Verfügung. Ob in großer Höhe, bei körperlicher Anstrengung oder vielen Krankheiten: die Sauerstoffmenge für die Zellen schwankt. Und der Körper muss damit klarkommen.

Späher werden geopfert

Lange war nicht bekannt, wie er das macht. Dabei scheint es ganz einfach zu sein – wenn man es gefunden und verstanden hat. Wie bei den meisten Vorgängen im Körper ist die Anpassung an die verfügbare Sauerstoffmenge ein ständiges Kontrollieren, was vorhanden ist, und Reagieren, wenn etwas fehlt. Das, was die Nobelpreisträger gefunden haben, ähnelt dabei einer zugegeben makaberen Szene aus dem Mittelalter: Späher werden vorgeschickt, um die Lage zu sondieren. Ist alles in Ordnung, haben sie ihren Dienst getan, und man entledigt sich ihrer durch Henker. Ist die Lage aber bedrohlich, lässt man die Späher am Leben, damit sie die Situation retten können.

Auf den diesjährigen Nobelpreis bezogen, sind die Späher das Protein HIF, die Henker das Protein pVHL und die bedrohliche Lage die Sauerstoffknappheit. Gregg Semenza fand heraus, dass Zellen ständig HIF (Hypoxia Inducible Factor, frei übersetzt: durch Sauerstoffmangel induziertes Protein) produzieren. Ist genügend Sauerstoff vorhanden, wird HIF chemisch verändert (hydroxyliert). Die Funktion eines zweiten beteiligten Proteins wurde von William Kaelin aufgeklärt. Das pVHL (Von-Hippel-Lindau-Tumorsuppressor-Protein) erkennt das chemisch veränderte HIF und baut dieses sofort ab. Der „Späher“ wird sozusagen durch den „Henker“ geopfert. Das, was sich brutal anhört, dient in der Natur jedoch einem großen guten Zweck. Peter Ratcliffe nun entdeckte, dass HIF und pVHL ganz entscheidend zur Bewältigung der Bedrohungslage bei knapper Sauerstoffmenge beitragen. Demzufolge ist alles Weitere eine Frage von Ursache und Wirkung: wenn nicht genügend Sauerstoff in der Zelle ankommt, dann wird HIF auch nicht mehr vom Sauerstoff hydroxyliert. Dadurch kann pVHL nicht mehr aktiv werden. Die Folge ist, dass HIF nicht mehr abgebaut wird und sich in der Zelle anreichern kann.

Bei Bedarf wachsen mehr Blutgefäße

Da HIF ein sogenannter Transkriptionsfaktor ist, der in ausreichend hoher Menge die Zelle dazu anregt, aktiv zu werden, um Probleme zu lösen, führt eine hohe Zahl an HIF-Protein in diesem Falle zum verstärkten Wachstum von Blutgefäßen. Auch die Zahl an roten Blutkörperchen, die die Zellen mit Sauerstoff versorgen, wird erhöht. Mehr rote Blutkörperchen und mehr Blutgefäße führen zu einer besseren Sauerstoffversorgung. Und somit ist die Bedrohungslage überwunden, und der Körper funktioniert weiter ohne Problem.

Interessant wird es, wenn man die Prozesse der Sauerstoffregulierung gezielt ausnutzt. Substanzen, die den Abbau von HIF unterbinden, könnten zur gesteigerten Bildung von roten Blutkörperchen beitragen, also zum Beispiel Blutarmut therapieren und die Wundheilung beschleunigen. Andersherum könnten Medikamente, die den Abbau von HIF beschleunigen beziehungsweise HIF blockieren, dazu beitragen, dass die Bildung neuer Blutgefäße unterdrückt wird. Da wachsende Tumore auf neue Blutgefäße angewiesen sind, ließe sich so das Tumorwachstum drosseln.

Wichtig für die Tumorforschung des iba

Auch wenn es bisher noch keine Medikamente mit diesen Wirkungen auf dem Markt gibt, sind die Arbeiten der Nobelpreisträger die Basis für vielversprechende Strategien gegen Krankheiten, die uns alle betreffen. Auch für das Institut für Bioprozess- und Analysenmesstechnik in Heiligenstadt sind die Zusammenhänge interessant, da die Forscher am iba an dreidimensionalen Zellmodellen für die Tumorforschung arbeiten. Die Versorgung der recht großen Zellhaufen mit Sauerstoff ist mit zunehmender Größe ein echtes Problem. Proteine mit regulativen Funktionen sind als Wachstums- und Tumorsuppressionsfaktoren die erste Wahl, um im Labor Tumorerkrankungen an dreidimensionalen Modellen erforschen zu können.

Der Nobelpreis für Medizin ist mit neun Millionen schwedischen Kronen (circa 830.000 Euro) dotiert. Der Chemiker Alfred Nobel hatte in seinem Testament verfügt, dass mit dem Großteil seines Vermögens eine Stiftung gegründet werden soll, deren Zinsen an die Menschen vergeben werden sollen, die der Menschheit im vergangenen Jahr den größten Nutzen brachten.

Der Autor ist Biologe und arbeitet in der Verwaltung des iba.