Berlin. Das Coronavirus verändert sich und auch seine Eigenschaften. Die in Deutschland verbreitete, stärker ansteckende Mutante B.1.1.7 ist nur ein Beispiel dafür. Was aber passiert, wenn eine Variante auftaucht, gegen die die Impfung nicht wirkt?

Während das Impfen Spritze um Spritze langsam vorankommt, mischt sich eine Befürchtung in die aufkeimende vorsichtige Hoffnung: Das Coronavirus könnte derart mutieren, dass weder die Impfstoffe noch eine überstandene Infektion vor Ansteckung und Erkrankung schützen.

Kanzleramtschef Helge Braun hatte neulich der "Bild am Sonntag" gesagt, wenn parallel zum Impfen die Infektionszahlen stiegen, wachse die Gefahr, dass die nächste Virus-Mutation den Impfstoff unwirksam werden lasse.

Entstehung von Immune-Escape-Varianten

Der CDU-Politiker und Mediziner steht mit dieser Einschätzung nicht alleine da. Auch Wissenschaftler befassen sich schon länger mit dem Thema. Mal klingt es etwas alarmistisch, mal nach einer eher theoretischen Gefahr. Dass sich Sars-CoV-2 grundsätzlich gut anpassen kann, leiten Experten des Robert Koch-Instituts (RKI) vom Auftreten von Virusvarianten ab, die teilweise oder komplett resistent beispielsweise gegen neutralisierende Antikörper sind. Der in Südafrika zuerst nachgewiesene Typ B.1.351 könnte nach ihrer Einschätzung "eine Grundlage für die Entstehung sogenannter Immune-Escape-Varianten darstellen".

Solche Escape-Varianten, auf Deutsch: Flucht-Varianten, haben sich genetisch so verändert, dass sie von Antikörpern nicht mehr erkannt werden, die gegen das ursprüngliche Coronavirus gebildet wurden. "Tarnung" nennt Luka Cicin-Sain vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig das. "Viren werden aber nicht vollständig unsichtbar", sagt Cicin-Sain.

Wenn der sogenannte Selektionsdruck steige - etwa durch einen wachsenden Anteil an Geimpften in der Bevölkerung - hätten es die Viren zunehmend schwerer, erklärt Cicin-Sain. Nur die Stärksten können sich dann noch durchsetzen. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sich Mutanten ausbreiten, die vom Immunsystem nicht oder nicht gut erkannt werden. Die zweifache Impfdosis biete aber einen guten Schutz auch gegen bisher bekannte Corona-Mutanten, sagt der Forscher. Zumal der Anteil an Antikörpern im Blut nach einer Impfung in der Regel deutlich höher sei als nach einer Corona-Infektion.

Mutanten können Impfschutz reduzieren

Gesundheitsbehörden wie das RKI oder die Weltgesundheitsorganisation analysieren schon seit geraumer Zeit die Virustypen, um sogenannte "besorgniserregende Varianten" gut im Blick zu behalten. Als solche gelten derzeit B.1.351 (Südafrika), P.1 (Brasilien) und die aus Großbritannien bekannte Mutante B.1.1.7. Dass Letztere sich mittlerweile auch in Deutschland weit verbreitet hat, liegt laut Cicin-Sain aber nicht daran, dass sie eine Escape-Variante sei - sondern sie binde besser an Zellen. "Superglue-Klebstoff statt Uhu, wenn Sie so wollen."

Was aber, wenn sich eine wirkliche Flucht-Variante durchsetzt? Eine Gruppe von Nichtregierungsorganisationen wie Oxfam veröffentlichte jüngst eine Umfrage unter Epidemiologen und Virologen aus 28 Ländern, deren Einschätzung zufolge Mutationen die aktuellen Impfstoffe gegen Covid-19 in einem Jahr oder weniger unwirksam machen könnten.

Forscher des Leibniz-Instituts für Primatenforschung in Göttingen und des Universitätsklinikums Ulm haben herausgefunden, dass ein Antikörper, der für die Covid-19-Therapie eingesetzt wird, bei den Varianten B.1.351 und P.1 komplett wirkungslos gewesen sei. Stefan Pöhlmann und Markus Hoffmann vom Deutschen Primatenzentrum stufen die beiden daher als Escape-Varianten ein. Es sei aber davon auszugehen, dass B.1.351 und P.1 immer noch durch die verfügbaren Impfstoffe gehemmt würden. "Allerdings ist der Impfschutz möglicherweise reduziert und von kürzerer Dauer." Dass Varianten entstehen, die nicht mehr durch jetzt verfügbare Impfstoffe gehemmt werden, ist den Forschern zufolge "ein extremes Szenario, aber nicht auszuschließen".

Impfstoffe sind anpassungsfähig

Also im Fall der Fälle alles auf Null? Ganz so dramatisch ist es wohl nicht. Zwar würden Lockerungspläne bei den Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung wohl um Wochen oder gar Monate zurückgeworfen, wie Modelliererin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen vor kurzem sagte. Aber schon die bisherigen Impfstoffe bieten zumindest einen gewissen Schutz, wie etwa Cicin-Sain sagt.

Die aktuellen Impfstoffe können nach Angaben der Präsidentin des Österreichischen Verbands der Impfstoffhersteller, Renée Gallo-Daniel, auch binnen sechs bis acht Wochen so verändert werden, dass sie ebenfalls gegen Mutanten wirken. Weil sie dann als neuer Impfstoff gelten, müssten sie aber gleichermaßen zugelassen werden.

Die Europäische Arzneimittel-Agentur hat für diesen Fall schon ein Prozedere geplant, das eine rasche Zulassung für diese adaptierten Impfstoffe ermöglicht, wie auch der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, Klaus Cichutek, vor kurzem versicherte. "Nach der Zulassung muss dann die Produktion umgerüstet werden", erklärt Gallo-Daniel weiter. Auch das kostet Zeit. Zu klären sei dabei, ob die gesamte Produktion oder nur ein Teil umgestellt werden muss.

Es ist nicht die einzige Frage, die Politiker und Behörden im Falle des Falles - möglichst schnell - beantworten müssen, wie die Verbandschefin deutlich macht: Wer entscheidet, ab wann auf einen veränderten Impfstoff umgestiegen wird? Müssen beide Impfstoffe verwendet werden? Ist es möglich, dass ein Impfstoff entwickelt wird, der mehrere Corona-Stämme enthält und regelmäßig angepasst wird - ähnlich wie bei der Grippe? Nicht zu guter Letzt kann heute noch niemand wirklich sagen, wie lange der Impfschutz eigentlich hält.

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