Berlin. Die Zahl der Mädchen und jungen Frauen mit einer Essstörung hat laut einer Studie stark zugenommen. Das hat vor allem einen Grund.

Hüfthosen, bauchfreie T-Shirts, Miniröcke: Die körperbetonten Modetrends der Nullerjahre sind zurück und vor allem viele Jugendliche feiern sie. Tiktok und Instagram sind voll damit. Gleichzeitig zeigt eine aktuelle Untersuchung, dass ärztlich diagnostizierte Essstörungen wie Magersucht, fachsprachlich Anorexie genannt, Bulimie und Binge-Eating gerade in der Corona-Pandemie weiter zugenommen haben. Eine große Gefahr: Denn Magersucht gilt als die tödlichste psychische Krankheit.

Laut Daten der Kaufmännische Krankenkasse in Hannover (KKH) sind vor allem Frauen betroffen – bei den 18- bis 29-Jährigen ist deren Anteil am höchsten. Insgesamt litten der KKH-Auswertung zufolge im Jahr 2021 17,6 von 1000 Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren an einer Essstörung, ein Jahr zuvor waren es 13,4 und 2019 noch 12,9 von 1000. Bei Mädchen und jungen Frauen in dem Alter gab es demnach in dem Zeitraum einen massiven Anstieg um über 30 Prozent. Laut KKH dürften bundesweit etwa 50.000 Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren von einer Essstörung betroffen sein.

Bereits vergangenes Jahr hatte die DAK-Krankenkasse Zahlen veröffentlich, wonach Essstörungen bei den Zehn- bis 14-Jährigen von 2019 bis 2021 um 33 Prozent und bei den 15- bis 17-Jährigen um 54 Prozent zugenommen haben. Auch hier wurde die Pandemie als Treiber genannt.

Gründe für Zunahme von Essstörungen während der Pandemie

Essstörungen beginnen oft in der Pubertät oder im frühen Erwachsenenalter und damit in einer besonders sensiblen Lebensphase. „Gerade die Pubertät ist eine Periode, in der die Heranwachsenden sehr anfällig sind für Schwierigkeiten mit dem eigenem Körperbild oder Essstörungen“, so die Psychotherapeutin Nadine Vietmeier.

Ihrer Einschätzung nach zeigen fast 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland Symptome einer Essstörung. Der Altersgipfel für Ersterkrankungen liege bei 14,5 Jahren, sagt Verena Haas, Ernährungswissenschaftlerin und Leiterin der Forschungssektion für Essstörungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Charité.

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Der Wegfall von sozialen Aspekten während der Coronapandemie scheint Studien zu Folge die Verwundbarkeit für Stress und als Konsequenz dessen die Anfälligkeit für Essstörungen erhöht zu haben. Häufig hätten Jugendliche auch essstörungsbezogene Gedanken und Verhaltensmuster als „Coping Mechanismus“ – sprich Bewältigungsmethode – genutzt, um verlorene Kontrolle zurückzugewinnen, heißt es.

Essstörungen: Bewusster Konsum von Social Media

Außerdem hätte die erhöhte Social-Media-Nutzung und die damit einhergehenden, ungesunden Vergleiche – neben der fehlenden Tagesstruktur – dazu geführt, dass Zahlen gestiegen seien, erklärt Haas. „Je mehr Zeit vor allem junge Frauen auf Social Media verbringen und dort Bilder ansehen und sich vergleichen, desto höher wird das Unzufriedenheitsgefühl mit dem eigenen Körper. Das wiederum verändert das Essverhalten und ist bekannter Auslöser für Essstörungen“, so Haas.

Auch Vietmeier erkennt einen Zusammenhang zwischen der Social-Media-Nutzung und Körperbildstörungen, auch wenn die Effekte klein seien: „Studien weisen darauf hin, dass eine Reduktion der Social-Media-Nutzungsdauer dazu führt, dass Jugendliche ihren Körper positiver bewerten“, so Vietmeier. Ein bewusster Konsum der sozialen Medien sei wichtig, betont die Psychologin von der Charité.

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Der Bodypositivity-Trend, sprich, die Darstellung einer Vielfalt von Körpern, und dass retuschierte Bilder als solche gekennzeichnet werden, könne den negativen Einfluss sozialer Medien verringern. Auch Haas mag die Idee der Bodypositivity, jedoch sei sie noch viel zu wenig im Alltag, in den Schulen und der Werbung angekommen. Und das beweist auch der Blick auf die Laufstege dieser Welt.

Soziale Medien: Akzeptanz für die individuelle Körperform

„Doch nicht nur umweltbedingte Einflüsse wie das aktuelle Schönheitsideal und die sozialen Medien beeinflussen das Körperbild junger Menschen, sondern auch persönliche Faktoren, wie der Umgang mit dem eigenen Körper, genetische Charakteristika und das Selbstwertgefühl“, erklärt Vietmeier. Schulen, Ärzte und Eltern hätten eine Verantwortung, bestimmte Lebenskompetenzen, etwa kritisches Denken, Selbstwahrnehmung, die Stärkung des Selbstwertgefühls und ein Bewusstsein für einen gesunden Körper, und ein gesundes Körpergewicht zu fördern. „Studien zeigen, dass Prävention wirksam ist, um Essstörungen zu verringern,“ so die Expertin.

Alarmierende Zahlen: Immer mehr Mädchen und junge Frauen erkranken an Essstörungen.
Alarmierende Zahlen: Immer mehr Mädchen und junge Frauen erkranken an Essstörungen. © dpa | Jens Kalaene

Haas ergänzt: „Ein gesunder Körper ist für jede Person unterschiedlich, manche sind genetisch eher schlank und andere eher korpulent oder kräftig.“ Es sei wichtig, dass Jugendliche eine Akzeptanz für ihre individuelle Körperform entwickeln und ein Verständnis dafür, dass sie in etwas Ungesundes hineinrutschen können, wenn sie versuchen, diese zu verändern. „Deswegen ist es essenziell, regelmäßig zu essen, nicht zu hungern, keine Diäten zu halten – nichts zu erzwingen, was die Natur nicht vorgesehen hat“, so Haas, „und dass man auch Süßigkeiten isst, ohne schlechtes Gewissen“.

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Einen Trend, der nicht dem eigenen Figurtyp entspricht, kann es immer wieder geben. „Egal wie dein Körper aussieht – zu irgendeinem Zeitpunkt oder von irgendeiner Person wird er kritisiert“, so Vietmeier. Dann sei es wichtig, dass Jugendliche einen gesunden Selbstwert haben und Grenzen setzen können, betont die Psychotherapeutin.

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