Berlin. Wer sich nur noch auf eigene Makel konzentriert, wird unzufrieden und krank. Wie man Perfektionismus kontrolliert und wann er nutzt.

Wir alle müssen uns tagtäglich neuen Herausforderungen stellen, sei es im Job, beim Sport oder im Familienleben. Nicht immer laufen die Dinge dabei nach unseren Vorstellungen. Das Scheitern gehört zum Leben wie Erfolge und Hochmomente. Doch während sich die einen bei Fehlschlägen nicht sofort aus der Bahn bringen lassen und weiter nach vorne blicken, gehen andere stärker mit sich ins Gericht und stecken als Konsequenz die eigenen Ziele für das nächste Mal einfach noch höher. Aber warum ist das so?

"Perfektionismus ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das bei manchen stärker, bei anderen weniger stark ausgeprägt ist," sagt Nathalie Claus vom Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Es kann in bestimmten Situationen aktiviert werden und ist besonders in Vergleichs- oder Prüfungssituationen spürbar – vor allem dann, wenn bestimmte Ansprüche von außen kommuniziert werden."

Die Charaktereigenschaft sei dabei keineswegs zwingend negativ: "Das Streben nach Exzellenz muss kein Problem sein und kann im Gegenteil sogar förderlich und ein Ansporn sein, sich anzustrengen, um die eigenen Ziele zu erreichen", so Claus. Die Dinge gut machen zu wollen, motiviere uns zunächst zum Handeln. Der Wunsch nach guten Leistungen sei etwas, was evolutionär gesehen in unserer menschlichen Natur liege.

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Mit Misserfolgen umgehen lernen

Menschen, die hohe Ansprüche an sich stellen, kennen es meist nicht anders. Das Streben nach Perfektion erfahren einige schon früh in ihrer Kindheit: "Es gibt viele Elternhäuser, in denen eine hohe Leistung und gute Schulnoten sehr wichtig sind", sagt Christine Altstötter-Gleich, Dozentin an der Universität Koblenz-Landau. Der bloße hohe Leistungsanspruch von Eltern oder Lehrern sei aber nicht die alleinige Ursache für die Entstehung von perfektionistischen Verhaltensweisen. Entscheidend sei, wie Erzieher und Lehrer bei Misserfolgen reagieren.

"Ein Kind muss auch in Situationen, in denen es den Ansprüchen nicht gerecht werden kann, weiterhin spüren, dass es trotzdem unterstützt und wertgeschätzt wird", sagt Altstötter-Gleich. So sei es dem Kind möglich, richtig mit dem Scheitern umzugehen. Wenn die schulischen oder sportlichen Leistungen des Kindes hingegen an ein Lob und die Aufmerksamkeit der Eltern geknüpft würden, könne ein dysfunktionaler Perfektionismus entstehen, der problematisch ist.

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    Die Angst, den eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden

    Da Perfektionismus sehr stark mit dem Selbstwert verbunden sei, sind vor allem Personen mit Selbstzweifeln und Unsicherheiten besonders anfällig dafür, nach perfekten Leistungen zu streben, erklärt Claus. "Wer gut mit den eigenen Leistungsansprüchen umgehen kann, hat in der Regel auch andere Dinge außer den guten Leistungen, die er an sich mag." Menschen, die ihren Selbstwert also nicht ausschließlich von ihren erbrachten Leistungen abhängig machen, seien bei Misserfolg gefeiter, da sie eine Niederlage nicht auf den eigenen Wert und die eigenen Fähigkeiten beziehen, so die Expertin.

    Leidensdruck entsteht bei Perfektionisten durch eine starke Selbstabwertung in Situationen des Scheiterns. Gelinge die Abgrenzung von Selbstwert und eigener Leistung nicht, könne diese negative Selbstkritik zu ernsthaften psychischen Problemen, wie Depressionen, Essstörungen oder sozialen Ängsten führen, so die Perfektionismus-Expertin Altstötter-Gleich. "Wer aufgrund seiner eigenen Leistungsansprüche keine Freude mehr an Dingen hat, häufig Schuldgefühle verspürt oder soziale Situationen meidet, hat keinen gesunden Umgang mehr mit seinen eigenen Leistungen," so die Psychologin.

    Weg vom Schwarz-Weiß-Denken

    Perfektionisten sind auf den ersten Blick zwar oft Kolleginnen und Kollegen, die durch ihre guten Leistungen und hohen Ansprüchen im Büro gerne gesehen sind, allerdings führt dieser dysfunktionale Perfektionismus im Arbeitsalltag und Privatleben häufig auch dazu, dass diese Menschen wichtige Aufgaben lange aufschieben und bis zum letzten Moment prokrastinieren.

    Das Perfektionsstreben sei den Expertinnen zu Folge deshalb so problematisch, weil Betroffene im Schwarz-Weiß-Denken gefangen seien: "Häufig denken diese Perfektionistinnen und Perfektionisten dann ‚ganz oder gar nicht‘. Sie müssen eine Sache also entweder völlig perfekt erledigen oder sie sind gescheitert", so Nathalie Claus.

    Perfektionisten ziehen aus ihrem Misserfolg klare Schlüsse: "Die Ziele werden im Nachhinein noch mal viel höher gesteckt. Das kann dann dazu führen, dass man einzelnen Aufgaben vielmehr Zeit widmet, als sie eigentlich bräuchten und deshalb nicht mehr hinterherkommt oder man auf schöne Aktivitäten verzichten muss", so die Münchner Psychologin.

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      Sich die eigenen Schwächen eingestehen

      Sich über die eigenen Schwächen klar zu werden und zu lernen, mit ihnen umzugehen, sei ein erster wichtiger Schritt, um einen ungesunden Perfektionismus zu umgehen. "Wir transportieren allerlei an Überzeugungen aus dem Elternhaus mit uns herum, die wir gar nicht mehr überprüfen", sagt Dozentin Altstötter-Gleich. Sie rät deshalb, beim eigenen Verhalten in Leistungssituationen anzusetzen und sich und seine Selbstwahrnehmung kritisch zu hinterfragen.

      An den eigenen perfektionistischen Denkfehlern und katastrophisierenden Gedanken zu arbeiten, könne helfen: "Wenn ich merke, dass ich mich in sozialen Situationen immer mehr zurückziehe, dass ich mich vielleicht ausgebrannt fühle oder depressive Empfindungen aufweise, ist es notwendig, sich professionelle Hilfe zu holen", sagt sie. Altstötter-Gleich betont bei alledem aber: "Das Problem am Perfektionismus liegt nicht in dem Versuch, gut zu sein und die bestmögliche Leistung zu zeigen, sondern vor allem im nicht konstruktiven Umgang mit dem Scheitern. Fehler dürfen passieren und man darf auch aus ihnen lernen."

      Tipps für mehr Gelassenheit im Alltag

      Um Perfektionismus vorzubeugen, sollte man Lebensbereiche fördern, die nichts mit Leistung zu tun haben, Freizeitaktivitäten wählen, die ohne Wettbewerbsdruck auskommen. Zudem hilft oft eine mentale Kosten-Nutzen-Analyse: Wie viel bringt es mir wirklich, wenn ich mich voll ins Zeug lege, und ist das die Anstrengung wert?

      Lief etwas nicht wie geplant, gilt es, den Fokus zu verschieben und sich nicht zu lange an Misserfolgen aufhängen, sondern lieber kurz zu überlegen, was man beim nächsten Mal anders machen möchte und gezielt darauf achten, was man gut gemacht hat.

      Bei selbstabwertenden Gedanken und viel Grübeln kann ein Perspektivwechsel helfen: Was würde man einem geliebten Menschen in derselben Situation sagen? Wie streng wäre man mit Freunden, und wie streng ist man mit sich selbst?