Erfurt. Bei besonders starken Schmerzen können Opioide ein Segen sein – Experten warnen jedoch vor Abhängigkeit und Drogensucht.

Wer Schmerzen hat, wünscht sich, dass diese rasch aufhören. Doch welche Schmerzmittel sind in welchen Fällen geeignet und wann sind Nebenwirkungen größer als deren Nutzen? Untersucht hat das der jüngste Arzneimittelreport der Barmer. „Rund eine halbe Million Menschen in Thüringen wird medikamentös mit Schmerzmitteln behandelt. Dabei kommt es noch zu häufig zu ungeeigneten Verordnungen und vermeidbaren Risiken“, sagt Thüringens Kassenchefin Birgit Dziuk.

Thüringen ist Schmerzland Nr. 1

Das Schmerzmittel Oxycodon der Firma Puren gehört zur Medikamentengruppe der Opioide.
Das Schmerzmittel Oxycodon der Firma Puren gehört zur Medikamentengruppe der Opioide. © Hanno Müller | Hanno Müller

Thüringen ist deutschlandweit das Schmerzland Nr. 1. In keinem anderen Bundesland seien chronische Schmerzen so weit verbreitet. „Die Rate von 870 Betroffenen je 10.000 Personen übersteigt den deutschen Durchschnitt um satte 52 Prozent“, sagt Dziuk. In Verbindung mit der Tatsache zahlreicher ungeeigneter Schmerzmittelverordnungen spricht sie von einem Alarmsignal. Auch deshalb sei es hierzulande besonders wichtig, Schmerzpatienten bestmöglich zu versorgen. 67 Prozent der Frauen und 53 Prozent der Männer in Thüringen hätten 2021 unter Schmerzen gelitten. Am häufigsten wurde über Kopf- (69 Prozent) und Rückenschmerzen (67 %) geklagt. Rund ein Viertel der Bevölkerung bekomme mindestens einmal jährlich Schmerzmittel verschrieben, das sind allein in Thüringen über 500.000 Menschen. Rezeptfrei erhältliche Schmerzmittel wie Ibuprofen, Diclofenac und Co. würden dabei häufig gar nicht von den Statistiken erfasst. Behandlern fehle somit häufig die Kenntnis über deren Einnahme.

Birgit Dziuk, Landesgeschäftsführerin der Barmer, sieht in der übermäßigen Einnahme von Schmerzmitteln ein Alarmsignal.
Birgit Dziuk, Landesgeschäftsführerin der Barmer, sieht in der übermäßigen Einnahme von Schmerzmitteln ein Alarmsignal. © Hanno Müller | Hanno Müller

Die stärksten Schmerzmittel sind auch die gefährlichsten

Die hohe Schmerzlast in Thüringen erklärt sich für Winfried Meissner, Leiter der Sektion Schmerztherapie an der Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie des Uniklinikums in Jena, auch mit dem höheren Altersdurchschnitt, bis ins Detail kenne man die Ursachen aber nicht. Schmerzmittel ohne Nebenwirkungen gibt es nicht, sagt der Experte. So können etwa auch die übermäßige und unkontrollierte Einnahme von Ibuprofen, Diclofenac & Co. zu Geschwüren und Blutungen im Magen, beeinträchtigter Nierenfunktion oder verschlechterter Symptomatik bei Herzproblemen führen. Je stärker die Mittel, desto größer letztlich das Risiko. Ausführlich geht der Barmer-Bericht auf die sogenannten Opioide und deren extremes Abhängigkeits- und Suchtpotenzial ein. Die Folgen sind besonders in den USA zu sehen, wo zwei von drei Drogentoten auf Opioide zurückzuführen sind und mehr als jeder dritte Amerikaner berichtet, im letzten Jahr zumindest einmal ein verschreibungspflichtiges Opioid eingenommen zu haben.

apl. Prof. Dr. Winfried Meißner leitet die Sektion Schmerztherapie an der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin des  Universitätsklinikums in Jena.
apl. Prof. Dr. Winfried Meißner leitet die Sektion Schmerztherapie an der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin des  Universitätsklinikums in Jena. © UKJ | Anna Schroll/UKJ

Risiken der Opioide nicht unterschätzen

Die gute Nachricht, die der auch in der Deutschen Schmerzgesellschaft tätige Schmerzmediziner Winfried Meissner für Deutschland und Thüringen sieht: Deutlich restriktivere Regeln zum Einsatz von Opioiden durch das Betäubungsmittelgesetz wie auch durch Leitlinien der Fachgesellschaften in Deutschland tragen wesentlich dazu bei, dass es die in den USA beklagte „Opioidepidemie“ hierzulande nicht gibt. „Ärzte gehen hierzulande nach unserer Erfahrung sorgsam und verantwortungsbewusst mit diesen Mitteln um“, sagt Meissner. Rund 80.000 Thüringer haben laut Barmer mehr oder weniger starke Opioide verschrieben bekommen. Akutbehandlungen in Krankenhäusern wie auch mögliche Verbreitungen über den Schwarzmarkt nicht mitgerechnet. Nicht jedes Opioid eigne sich für jede Schmerzen. Risiken der Opioide dürften nicht unterschätzt werden. So sollten sie möglichst nicht in Kombination mit Beruhigungsmitteln eingenommen werden. Jeder zehnte Versicherte mit Opioidtherapie habe diese aber erhalten. In der Folge könne es zum Überdosierungsrisiko, zu vermehrten Krankenhausaufenthalten sowie zu einem erhöhten Sterberisiko kommen. Laut Barmerbericht sind langfristige Opioidgaben im Vergleich zur Behandlung mit anderen Schmerzmitteln mit einer signifikant höheren Wahrscheinlichkeit zu versterben assoziiert.

Opioid-Sucht in Thüringen angekommen

Dr. Katharina Schoett ist Ärztliche Direktorin und Chefärztin der Abteilung Suchtmedizin am Ökumenischen Hainich-Klinikum in Mühlhausen.
Dr. Katharina Schoett ist Ärztliche Direktorin und Chefärztin der Abteilung Suchtmedizin am Ökumenischen Hainich-Klinikum in Mühlhausen. © Hanno Müller/furt | Hanno Müller

Laut Katharina Schoett, Chefärztin der Abteilung Suchtmedizin am Ökumenischen Hainich-Klinikum in Mühlhausen, ist die Opioid-Sucht auch in Thüringen und speziell in ihrer Klinik angekommen. Ungeachtet veröffentlichter Zahlen zu Verschreibungen geht die Medizinerin von einer schwer zu messenden Dunkelziffer bei den Einnahmen aus. So würden privat bezahlte Weiterverordnungen gar nicht erfasst, zudem berichteten Patienten über Opioide aus dem Internet oder aus Schwarzmarktquellen. Für problematisch hält es die Suchtexpertin, wenn Patienten unaufgeklärt für längere Zeit opioidhaltige Mittel nähmen und es erst bewusst merken, wenn die Abhängigkeit bereits da ist. Um dies zu verhindern, wünsche sie sich mehr Dialog zwischen Sucht- und Schmerzmedizinern. „Statt sich gegenseitig Blockadehaltungen vorzuwerfen, sollte es darum gehen, vorurteilsfrei für den Patienten den besten Weg aus oder mit dem Schmerz zu finden“, sagte Schoett.

Mehr Schmerzambulanzen gefordert

Barmer-Chefin Birgit Dziuk hofft, dass spätestens mit der flächendeckenden Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) für Behandelnde klarer wird, welche Schmerzmittel ihre Patienten in welchen Mengen verordnet bekommt bzw. einnehmen. Schmerzmediziner Winfried Meissner wünscht sich mehr ambulante Schmerzpraxen, die Probleme gezielt angehen können. Nicht immer seien Medikamente die allerbeste Wahl. Um alternative Therapien zu finden, brauche es aber Zeit und gegebenenfalls den interdisziplinären Blick von Kollegen unterschiedlicher Fachrichtungen.