Weimar. Ein Projekt in Weimar will Antworten auf die Frage finden, wie wir in Zukunft wohnen werden.

Der Fensterblick vom Wohnzimmer geht über die Straße in das Grün des Schwanseebades. Auf der anderen Seite noch mehr Grün, hinter der Küche liegt der kleine Gemeinschaftsgarten. Drei Zimmer, Küche, Bad, frisch hergerichtet vom Fußboden bis zur neu eingezogenen Decke, zum Stadtzentrum ein Katzensprung. Und das alles zwei Jahre lang zum Nulltarif, nur die Nebenkosten sind zu zahlen. Im Oktober ziehen Marco Reusch und Partnerin Nathalie Millan ein. Beide 26, beide Studierende an der Bauhaus-Uni. Die Glückspilze.

Glückspilze? Man wird sehen. Die neue Wohnung könnte ihnen einiges abverlangen: Ein ständiges Kommen und Gehen, viel wissenschaftliche Neugier von Fachleuten ihrer Universität, die ihr Wohnen wissenschaftlich begleiten werden. Mehr Öffentlichkeit, als ein ­junges Paar womöglich vertragen kann, trotz aller WG-Erfahrung.

Oder es läuft anders, die Vorstellung der beiden geht auf und ihre Wohnung im Erdgeschoss des alten Mietshauses wird zu einer neuen Mitte für sie und die Nachbarn. So schön, dass sie gar nicht mehr ausziehen wollen. Mit Workshops und kulturellen Angeboten im zum Salon geöffneten Wohnzimmer, mit gemeinsamem Kochen, Tanzen, Rotweinabenden und, wenn es nach ihnen ginge, auch mit geteiltem hausständischem Equipment von der Flex bis zur Waschmaschine. Sie nennen es „neue Tauschkultur“. Alles bei Erhaltung ausreichender Rückzugsräume, schließlich bleibt es eine Wohnung. Ein Stück Heimat, das jeder Mensch braucht.

Dessen Ausgestaltung aber womöglich eine Renovierung in vielerlei Hinsicht vertragen könnte, weil sich das Leben ändert: Arbeit 4.0, der demografische Wandel, wachsende Mobilität. Lässt sich in der Wohnungsfrage der häufig geäußerte Wunsch nach mehr Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit sinnvoll mit dem Bedürfnis nach Privatheit verbinden? Verträgt der Privatraum überhaupt halbdurchlässige Wände? Und wenn ja, wie müsste eine solche Wohnung baulich beschaffen sein? Zweifellos würden die Antworten verschieden ausfallen, weil Menschen verschieden sind. Aber ließen sich die Antworten vielleicht an einem Modellbeispiel durchdeklinieren?

Erfahrungen für künftige Sanierungen

Darum soll es in den nächsten zwei Jahren gehen, in der Weimarer Asbachstraße 32, Parterre links. Ein Feldversuch bei laufendem Betrieb. Wohnen unter sozialen Laborbedingungen. Etwa so könnte man dieses Projekt beschreiben. „Wohnen mit Zukunft“ – so nennen es die Akteure: Die Bauhaus-Universität, die Weimarer Wohnstätte GmbH, die Thüringer Aufbaubank und das Infrastruktur-Ministerium.

Der bauliche Rahmen ist schnell beschrieben: Zwischen den beiden größeren Zimmern zur Straße wurde ein großer Durchbruch geschaffen. Von der Küche führt eine Terrassentür in den Garten, Einbauschränke sollen Stauraum schaffen. Normalerweise, so der Geschäftsführer der Weimarer Wohnstätte, Udo Carstens, würde man in die Sanierung einer solchen Bestandswohnung – das Haus wurde um 1900 erbaut – maximal 20.000 Euro stecken. Diese hier kostet das Vierfache. Aber es sei ja auch ein Pilotprojekt mit besonderen Anforderungen. Wenn sich daraus Erfahrungen für künftige Sanierungen ableiten ließen, wäre das ein Gewinn.

Doch am wichtigsten an einer Wohnung, heißt es so schön, sind nicht die Wände, sondern die Räume dazwischen und wie sie ausgefüllt werden. Dem Aufruf, sich mit eigenen Vorstellungen als Bewohner und vor allem künftige Nachbarn vorzustellen, sind immerhin 30 Bewerber gefolgt. Mit unterschiedlichsten Hintergründen und Ideen, wie Bauhaus-Professorin Barbara Schönig bemerkt. Paare mit und ohne Kinder, Senioren, Handwerker, Akademiker... Die einen planten ein Wohnzimmer-Theater, andere schlugen eine offene Werkstatt vor, Kinderbetreuung spielte eine Rolle, gemeinsame Fernsehabende. Am Ende überzeugten die beiden Bauhaus-Studierenden mit ihrem Konzept. Wie genau sie das anpacken, dieses gemeinschaftliche Leben mit den Nachbarn? Das werden wir, sagt Marco Reusch, nach dem Einzug entscheiden. Sicher mit einer ersten Einladung an die Nachbarn. Um sie ginge es ja schließlich, um die Frage, was sie wollen.

Frau S. , die seit 45 Jahren im Stockwerk darüber wohnt, wirkt zumindest nicht ablehnend. Der Trubel um die Wohnung im Erdgeschoss stört sie nicht. Wäre das gut, mehr Nachbarschaft, mehr Begegnung? Hatten wir früher mehr in diesem Haus, bemerkt sie.

„Bleiben Sie so mutig!“, sagt Staatssekretär Klaus Sühl zu den neuen Bewohnern. Ein schöner Wunsch zum Einzug.