Martin Debes betrachtet Wahlplakate.

Vor einer langen Weile fuhr ich durch das schöne Ammertal nach Jena. Die Strecke stellte eine landschaftlich wertvolle Alternative dar, jedenfalls dann, wenn es sich auf der alten A4 am Schorbaer Berg staute, was so gut wie immer der Fall war.

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© Andreas Wetzel

Ich nahm zwar an, dass der anwohnende Ammertaler uns Ausweichpendler eher doof fand. Aber im Stau warten war doofer.

Es stand damals eine Wahl an, worauf mich die Plakate an den Laternenpfählen hinwiesen. In Ammerbach, dem letzten Dörfchen vor Jena, hing gleich mehrfach der örtliche Abgeordnete von der SPD herum, der, auch das ist irgendwie eine Leistung, immer noch der örtliche Abgeordnete der SPD ist. Bei den Plakaten handelte es sich um den Klassiker der einfallslosen Polit-Reklame: Porträtfoto, Parteilogo, Name des Bewerbers.

Doch dann das: Fast kollidierte ich, von einem Lachanfall beeinträchtigt, mit dem Pfosten, an dem ein verfremdetes Exemplar hing. Irgendjemand hatte dem Plakat eine Klobrille, die offenkundig über viele Jahrzehnte genutzt worden war, aufgesetzt - und zwar dergestalt, dass das optimistische Lächeln des Kandidaten präzise durch das schmutzig-weiße Rund strahlte, auf dem zahllose Hintern gesessen haben mussten.

Nein, freundlich war diese Art von fäkal angehauchtem Protest nicht. Aber er lenkte die Aufmerksamkeit auf den Kandidaten. Zudem war die Klobrille einfallsreicher als das, was sonst Wahlplakaten angetan wird - mit präpubertären Schmierereien oder, das ist eine neuere Entwicklung, mit roher Gewalt.

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© Andreas Wetzel

Wenn sich an der Zahl zerstörter Plakate ableiten lässt, wie aufgeladen die Stimmung ist, dann muss ein guter Teil der deutschen Bevölkerung unbedingt ins Antiaggressionstraining. Aber für diesen Befund reicht auch ein flüchtiger Blick ins Netz.

Überhaupt, dieses Internet. Es gibt ja dort besonders viele Möglichkeiten, Wähler zielgerichtet zu bespaßen. Die Grünen, nur zum Beispiel, müssen sich bloß die Daten von Akademikern besorgen, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken, neuerdings Grönemeyer-Fans sind und die ihren Salata Caprese ausschließlich mit kalt gepresstem Bio-Olivenöl beträufeln: Und, schwuppdiwupp, haben sie die Hälfte ihrer Zielgruppe beisammen.

Ein Plakat hingegen wird einfach in die analoge Bevölkerung hineingehängt, so wie ein unbewurmter Angelhaken in einen dunklen Teich. Es ist der Blinddarm der politischen Werbung: Obwohl es niemand mehr braucht, ist es immer noch da.

Aber warum geben dann die nicht unbedingt reichen Parteien Hunderttausende Euro aus, um mit ökologisch und stilistisch fragwürdiger Reklame anachronistisch ins Ungefähre hinein zu werben?

Studien scheinen nicht zu helfen - Kopfplakate funktionieren nicht

Studien helfen hier kaum. Im vergangenen Bundestagswahlkampf etwa teilte die Universität Hohenheim mit, dass sogenannte Kopfplakate und reine Textposter kaum funktionierten. Wahlplakate wirkten vielmehr vor allem dann, „wenn sie relevante Themen ansprechen und wenn sie gut gemacht sind“.

Tatsächlich? Spricht man mit Partei- und PR-Leuten, werden zumeist drei Gründe genannt. Erstens: Sensibilisierung führt zu Mobilisierung. Parteien weisen mit Plakaten oft erst die Wähler darauf hin, wann eine Wahl ansteht. Lokale Kandidaten wiederum übermitteln die Information, dass sie existieren.

Zweitens: Penetranz funktioniert. Selbst wenn der Mensch Werbung zu ignorieren versucht, infiltriert sie das Unterbewusstsein. Mit Neuro-Marketing lassen sich nicht nur Autos verkaufen.

Drittens: Präsenz. Wer nicht plakatiert, wirkt so, als habe er schon aufgegeben - und überlässt den anderen die Straße.

Natürlich schaffen Wahlplakate es zuweilen auch, kontraproduktiv zu wirken. Sie können, das hat ein fast 30-jähriger Selbstversuch ergeben, auch von der Wahl einer bestimmten Partei abhalten. Oder sie können zumindest unterschiedlich gut gelingen.

So lässt sich, nur zum Beispiel, der aktuelle Thüringer SPD-Spitzenkandidat in tiefgedrucktem Schwarz-Weiß plakatieren, was einerseits total modelmäßig, schick und anders als die anderen aussieht - aber andererseits auf viele so wirkt, als informiere der Mann über sein baldiges politisches Ableben.

Damit hat er zwar ein zentrales Ziel von Reklame erreicht: Die Leute reden darüber - doch halt nicht so, wie er sich das vorstellte. Aber, hey, immerhin fällt das Plakat auch ohne irgendwelche Brillen auf.

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