Berlin. Wenige Menschen infizieren sich mit Corona, Intensivstationen sind kaum belastet. Doch Fachleute warnen vor den Folgen von Long Covid.

Jetzt, als alles vorbei scheint, hat es Dennis erwischt. Starke Halsschmerzen, 38,5 Grad Fieber. Auch seine Frau ist krank, Fieber, der Kopf brummt, die Glieder schmerzen. Dann der Test: Covid-positiv. Dennis lebt nach eigenen Angaben seit 15 Jahren im Rollstuhl, ist nach einem Unfall gelähmt. Die ganze Pandemie hätten seine Frau und er sich isoliert, „verbarrikadiert zu Hause“ – und hatten sich nicht mit Corona infiziert. Jetzt aber sind sie krank.

Dennis schildert seinen Fall in einer Gruppe von Betroffenen auf Facebook. „Ibuprofen, Paracetamol und Lutsch-Tabletten für den Rachen haben wir schon hier“, schreibt er. Und fragt in die Runde: „Was könnt ihr noch empfehlen?“ Auch andere beschreiben, dass sie sich mit dem Virus angesteckt haben, manche zum zweiten oder dritten Mal. Wieder andere klagen über Beschwerden, die seit Monaten andauern: schlechte Augen, Schmerzen in der Blase, Erschöpfung. „Ich rieche seit 1,5 Jahren fast nichts mehr“, schreibt eine Frau. „Ein schrecklicher Zustand.“

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Laut den offiziellen Zahlen tritt Corona in Deutschland kaum noch auf. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) bei eins, also eine neu infizierte Person pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen. Laut RKI sinkt sie derzeit von eins weiter. Zum Vergleich: Im Frühjahr 2022 lag der Wert noch bei mehr als 1500.

Gesundheitsminister Lauterbach: „Infektionslage ist ruhig“

Zwölf Prozent aller PCR-Tests sind demnach positiv, das sind vier Prozent weniger als vergangene Woche. Auch die Arztbesuche wegen Corona-Beschwerden gehen zurück. Auf den Intensivstationen liegen nur noch vereinzelnd schwer an Covid Erkrankte – zur Hochphase der Pandemie waren mehr als 20 Prozent aller Intensivbetten mit Infizierten belegt. 89 Menschen starben vergangene Woche an Corona – oder mit Corona, hatten also eine andere schwere Erkrankung. Auch bei den Todeszahlen ist der Rückgang deutlich.

„Die wenigen Erfolge bei der Behandlung von Long Covid besorgen mich“, sagt Minister Karl Lauterbach (SPD).
„Die wenigen Erfolge bei der Behandlung von Long Covid besorgen mich“, sagt Minister Karl Lauterbach (SPD). © dpa | Bernd von Jutrczenka

Die Zahlen sind eindeutig. Die Politik hat die Pandemie längst für beendet erklärt. „Die Infektionslage ist ruhig“, sagte am Mittwoch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Die Meldung per Handy-App ist abgeschaltet. Kaum jemand meldet noch Erkrankungen – wo auch? Läuft die Pandemie im Schatten der offiziellen Zahlen weiter – und wir merken es nur nicht?

Auf Nachfrage teilt das RKI unserer Redaktion mit, dass die Statistiken zum aktuellen Corona-Geschehen nicht nur auf Meldedaten und offiziellen Test-Zahlen beruhen. Andere Informationen spielen ebenfalls eine Rolle – etwa Berichte von Hausarztpraxen, aber auch Lungenfachärzten. Zugleich analysiert das RKI regelmäßig Tests nach möglichen neuen Virus-Varianten.

„Keine Anzeichen, dass Pandemie im Herbst oder Winter zurückkehrt“

Auch unsere Recherchen ergeben ein deutliches Bild. „Aus intensivmedizinischer Sicht stellt das Corona-Virus derzeit keine besondere Belastung mehr dar“, sagt Professor Gernot Marx, Vize-Präsident der Vereinigung der Intensivmediziner (DIVI). „Es ist heute eine von vielen möglichen Infektionserkrankungen, mit denen wir umgehen müssen.“ Ähnlich äußert sich auf Nachfrage Gerald Gaß, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft: „Glücklicherweise liegt Corona hinter uns. Es gib derzeit auch keine Anzeichen, dass die Corona-Pandemie im Herbst oder Winter zurückkehrt.“

Das zeigt auch die Lage auf den Intensivstationen. „Wir Intensivmediziner versorgen deutschlandweit derzeit beinahe 15.000 schwerst und lebensbedrohlich erkrankte Menschen. Darunter sind 72 Patienten mit einer Corona-Infektion“, sagt Marx. Die allermeisten sind älter als 60 Jahre, viele sind vorerkrankt.

65 Millionen Menschen in Deutschland haben mindestens eine Covid-Impfung bekommen.
65 Millionen Menschen in Deutschland haben mindestens eine Covid-Impfung bekommen. © epd | Friedrich Stark

Der aktuelle Wochenbericht des Robert-Koch-Instituts sieht einen leichten Anstieg bei Atemwegserkrankungen in Deutschland, darunter Influenzaviren und Rhinoviren. Aber auch im Bericht fällt die Bewertung der Corona-Lage eindeutig aus: SARS-CoV-2 und Respiratorische Synzytialviren (RSV) seien in dieser Kalenderwoche „nicht nachgewiesen“ worden.

Viele Kläranlagen melden höhere Viruslast als zuletzt

Nur eine Statistik lässt aufhorchen: Die im Abwasser gemessene Corona-Viruslast ging zuletzt nach oben. Ausgewählte Kläranlagen messen Viren, sie sind Teil des Frühwarn-Systems für steigende Infektionszahlen. 24 Prozent aller beteiligten Kläranlagen melden eine höhere Viruslast als vergangene Woche, laut RKI ein Anstieg um 129 Prozent. Allerdings erklärt sich der hohe Anstieg aus den insgesamt geringen Werten.

Lauterbach wird auf Nachfrage unserer Redaktion deutlich: „Es gibt derzeit keine Hinweise, dass wir eine neue Welle nicht entdecken können.“ Vor wenigen Tagen trafen sich Deutschlands führende Virologen zu einem Kongress in Frankfurt am Main, unter ihnen auch Christian Drosten von der Berliner Charité. Dass die Pandemie vorbei sei, sei der hohen Immunität in der Bevölkerung geschuldet: eine Mischung aus Impfung und Infektionen. Laut RKI meldeten schon mehr als 38 Millionen Menschen in Deutschland Corona, gut 65 Millionen sind wenigstens einmal geimpft.

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Bedrohlicher ist nach Ansicht von Fachleuten Long Covid – also die Langzeitfolgen nach einer Corona-Infektion: im schlimmen Fall Entzündungen, Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Probleme und auch extreme Erschöpfung. Die Symptomatik ist bekannt als Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS). Am Mittwoch stellte Minister Lauterbach ein neues Informationsportal des Bundes vor (www.bmg-longcovid.de).

Gefahr Long Covid: Noch immer fehlen Studien zu dem Krankheitsbild

Laut WHO leidet einer von 30 Corona-Infizierten an Long Covid. Lauterbach gibt für Deutschland an, dass zwischen sechs und 15 Prozent der Infizierten von Long Covid betroffen sind, seltener gebe es Betroffene unter Geimpften und Genesenen – und bei Patienten, die sich mit der Omikron-Variante angesteckt hätten. Aber: Viele Kinder leiden unter Long Covid.

Impfung und Immunität - so erklärt Virologe Christian Drosten die geringe Infektionslage.
Impfung und Immunität - so erklärt Virologe Christian Drosten die geringe Infektionslage. © FUNKE Foto Services | Anikka Bauer

CFS-Betroffene und Menschen mit anderen schweren Long-Covid-Verläufen sind nicht selten für mehrere Jahre berufsunfähig – ohne dass dies teilweise von Versicherungen anerkannt wird. Noch immer gibt es keine Heilung, so die Immunologin Carmen Scheibenbogen. Es gibt nur Medikamente gegen die Symptome. Auch Studien zum Krankheitsbild fehlen, Ärztinnen und Ärzte wissen noch zu wenig über CFS – oder schmettern Long Covid laut Berichten von Patienten als psychische Erkrankung ab. „Die wenigen Erfolge bei der Behandlung von Long Covid besorgen mich“, sagt Minister Lauterbach.

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Die Lage verschärft sich noch: Es gibt immer noch Infektionen mit Corona – und damit auch Fälle von Long Covid. „Die Zukunft von Long Covid hat gerade erst begonnen“, sagt Lauterbach. Der Bund gibt aktuell 40 Millionen Euro, vor allem für die Forschung über die Versorgungslage an Kliniken und Ambulanzen in Deutschland. Gerade abseits der Großstädte sieht die Bundesregierung Engpässe bei der Gesundheitsversorgung. Angekündigt hatte Lauterbach vor einigen Monaten noch 100 Millionen Euro für die Versorgungsforschung. Nun wurde der Haushalt gekürzt.

Immunologin Scheibenbogen hebt hervor, dass die Anstrengungen des Bundes nicht ausreichen würden im Kampf gegen Long Covid. Auch die Industrie sei gefordert, müsse Medikamente für die Forschung bereitstellen. In vielen Fällen hätten Pharmakonzerne Forschungsprojekte abgelehnt. „Das Teuerste wird sein, nichts zu tun“, sagt Scheibenbogen. Arbeitsausfälle, Arztkosten, Therapiekosten – die renommierte Harvard-Universität habe errechnet, dass Long Covid den USA langfristig 3700 Milliarden Dollar kosten könnte.