Rom. Die italienische Touristeninsel ist vor allem als Geflüchteten-Hotspot bekannt geworden. Doch eines ist in diesem Frühjahr anders.

Die hohen Wellen zerschellen an den Felsen der Küste von Lampedusa. Starker Wind und hoher Seegang haben seit Wochen die Ankunft von Migranten auf der 20 Quadratkilometer großen Insel zwischen Tunesien und Sizilien eingedämmt. Im sonst stets überfüllten Flüchtlingslager der Insel befindet sich lediglich ein junger Migrant, der aufgrund gesundheitlicher Probleme in den letzten Tagen nicht nach Sizilien gebracht werden konnte.

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Eine ungewöhnliche Ruhe herrscht auf der Insel, die zum weltweiten Emblem für irreguläre Einwanderung geworden ist, doch die Einwohner sind misstrauisch. „Die Situation wird nicht lange anhalten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass um diese Jahreszeit der Migrantenstrom wegen der schlechten Wetterbedingungen vorläufig zum Erliegen kommt. Sobald sich die Wetterlage verbessert, wird alles wieder losgehen. Schlepper in Tunesien und Libyen warten nur darauf, die Menschen in die Boote setzen zu können“, prophezeit Vito Fiorino (75), der auf Lampedusa eine Eisdiele betreibt.

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    Vito weiß, was die Seefahrt von Libyen nach Lampedusa bedeutet. Am 3. Oktober 2013 fuhr er mit seinem Boot „Gamar“ und ein paar Freunden zum Fischen aufs Meer, so erzählt er es unserer Redaktion. Sie beschlossen, über Nacht im Boot zu schlafen. Es war gegen 6.00 Uhr, als Vito erwachte und sich, man kann es wohl nicht anders sagen, sein Leben für immer veränderte. Sein Kumpel Alessandro hörte auf einmal Wimmern, menschliche Laute wie leise Schreie, „Anfang dachte ich, das seien Möwen. Aber als wir besser hinhörten, stellten wir fest, dass es sich um verzweifelte Rufe von Menschen handelte. Auf einmal tat sich vor mir eine Szenerie auf, wie man sie nicht beschreiben kann. Da waren all diese Menschen im Meer, die verzweifelt um Hilfe schrien, die Augen voller Angst“, erzählt Vito.

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    Er wusste nicht, dass gerade ein Flüchtlingsschiff mit etwa 550 Menschen aus Eritrea und Somalia untergegangen war. 47 Menschen konnten Vito und seine Freunde an Bord ihres Bootes nehmen, mehr als 360 weitere überlebten nicht. Vor Vitos Augen spielte sich eines der schlimmsten Flüchtlingsdramen in der europäischen Geschichte ab. „Ich werde diese Szenen nie vergessen, diese Nacht hat mein Leben verändert. Die meisten der Überlebenden sind mittlerweile in Nordeuropa, vor allem in Schweden, einige auch in Deutschland. Kontakt habe ich immer noch mit mehreren“, erzählt der Mann.

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    Als Eisdielen-Besitzer lebt Vito Fiorino vom Tourismus, doch der ständige Migrationsstrom, die dramatischen Szenen der Massenankünfte und des überfüllten Flüchtlingslagers der Insel belasten das Ansehen Lampedusas als Urlaubsparadies mit wunderbarem Meer und weißen Sandstränden schwer. „Die Zahl der Touristen ist im vergangenen Jahr zurückgegangen, vor allem jene der ausländischen Urlauber. Kein Wunder, im Ausland gilt Lampedusa als Slum-Insel“, meint Vito.

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    Der Tourismus ist zusammen mit der Fischerei die einzige Einnahmequelle der trockenen Insel, die nach 1872 für ein paar Jahre als Strafkolonie genutzt wurde. Das Meer ist seit jeher Teil des Lebens der Einwohner. Es bringt Fische und damit auch Lebensunterhalt und zieht zahlungskräftige Touristen an, die das karibikartige Flair und die Strände des Eilands lieben. Doch Lampedusa muss schon seit Jahren um seinen guten Ruf als Tourismusdestination bangen. Denn wegen der Masseneinwanderung afrikanischer Geflüchteter, für die die Insel ein Eingangstor nach Europa ist, gilt Lampedusa mittlerweile kaum mehr als Ferienparadies. Vielmehr ist es nun als Migrantenghetto im Mittelmeer bekannt.

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    Vito Fiorino ist skeptisch, dass die Abkommen, die die italienische Rechtsregierung um Premierministerin Giorgia Meloni zuletzt mit Tunesien, Ägypten und anderen Herkunftsländern der Migranten zur Eingrenzung der Flüchtlingsströme abgeschlossen hat, greifen könnten. „Wir sind misstrauisch: Zu viele Versprechen sind bisher nicht eingehalten worden“ , klagt Giacomo Sferlazzo (43). Der Musiker und Ökoaktivist führte im vergangenen September einen Protest der Einwohner Lampedusas gegen die große Anzahl von Migranten, die damals die Insel erreicht hatten. 12.000 Menschen waren in wenigen Tagen auf dem kleinen Eiland eingetroffen, doppelt so viele wie die lokale Bevölkerung. Seitdem ist es ruhiger geworden auf Lampedusa. Seit Jahresbeginn sind 4400 Migranten nach Seefahrten über das Meer in Süditalien angekommen, im Vergleichszeitraum 2023 waren es drei Mal so viel gewesen, über 14.000.

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    Der Arzt Pietro Bartolo hat fast 30 Jahre lang die medizinischen Hilfsmaßnahmen für Flüchtlinge auf Lampedusa koordiniert. Seit 2019 ist er als Sozialdemokrat Mitglied des Europäischen Parlaments. Der 67-jährige Mediziner glaubt nicht, dass Melonis Migrationspolitik zu einem sichtbaren Rückgang der Einwanderungswelle führen wird. „Das Geschäft der Menschenhändler ist zu groß, darauf wollen die Schlepper nicht verzichten. Bereits in den vergangenen Jahren wurden Abkommen mit der Türkei und Libyen abgeschlossen und was ist geschehen? Nichts, die Zahl der Migranten ist stetig gestiegen“, klagt Bartolo.

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    Die einzige Lösung für den Migrationsnotstand sieht er in der Schaffung legaler Einwanderungswege. Nur so könne man das Geschäft der Schlepperei aktiv bekämpfen. Die Bevölkerung sei seit fast 30 Jahren mit der Migrationsproblematik konfrontiert, sie sei zwar erschöpft, aber weiterhin den Ausländern gegenüber offen, meint Bartolo. „Die Lampedusaner sind Fischer, die Insel hat sich gegenüber dem Drama der Migranten nie verschlossen. Inzwischen ist diese kleine Mittelmeerinsel zu einem weltweitem Symbol für Solidarität mit Flüchtlinge geworden. Im Ausland spricht man mehr über Lampedusa als über Rom“, erklärt Bartolo.