Jena. Der Jenaer Didaktik-Professor Michael Rücker über Informatik als Pflichtfach in Thüringer Schulen und welche Herausforderungen das mit sich bringt.

Was in einigen Bundesländern bereits Schulalltag ist, soll ab Schuljahr 2024/25 auch in Thüringen gelten: das Fach Medienbildung und Informatik als Pflicht für alle Schüler ab der 5. Klasse. Warum das trotz ohnehin straffen Schulstoffs nötig ist und woher die Lehrer dafür herkommen sollen, fragte die Redaktion den neuen Juniorprofessor für Didaktik der Informatik der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Michael Tobias Rücker.

Herr Rücker, ohne Informatik könne Schule ihren Bildungsauftrag nicht erfüllen, sagt ihre Professoren-Kollegin Ira Diethelm von der Uni Oldenburg. Stimmen Sie zu?

Absolut. Die digitale Transformation unserer Gesellschaft ist ein Schlüsselproblem unserer Zeit. Es ist unverantwortlich, junge Menschen aus der Schule zu entlassen, ohne dass sie sich mit dieser Technik auseinandergesetzt haben.

Sie wachsen damit auf, tun sie das nicht ohnehin schon längst?

Das Narrativ von den Digital Natives ist ein Mythos, das wissen wir aus der Forschung inzwischen sehr gut.

Was ist falsch daran?

Die Kinder wachsen vor allem mit der Nutzung von Geräten wie Tablet und Smartphone auf. Das wirkt von außen, als könnten sie wieselflink damit alles machen, was ihren Eltern manchmal völlig schleierhaft vorkommt. Aber das sind keine übertragbaren Fähigkeiten. Wenn wir sie im Unterricht vor einen Rechner mit Maus, Tastatur und klassischem Betriebssystem setzen, zeigen sich eklatante Mängel. Und da reden wir noch nicht über ein tiefergehendes Verständnis, was eigentlich dahintersteckt. Fragen Sie mal einen Digital Native, wie das Internet eigentlich funktioniert. Was genau passiert, wenn man ein privates Browserfenster öffnet, oder ob es neben Google noch andere Suchmaschinen gibt und warum man sie hin und wieder nutzen sollte. Solches Wissen zieht man nicht aus der Nutzungserfahrung mit der Technik.

Warum sollen sich Schüler mit einem ohnehin vollgepackten Lehrplan mit diesen Fragen befassen?

Es geht um Entmystifizierung der Welt, die ist ja auch in anderen Fächern Bildungsanspruch. Meine Leber, meine Lunge funktionieren ohne mein Wissen darüber. Waschmittel macht Wäsche sauber, ohne dass ich einen Gedanken daran verschwende, was da eigentlich drin ist. Trotzdem ist unser Anspruch an einen allgemein gebildeten Menschen, dass er das nicht nur weiß, sondern es erklären kann. Da müssen wir auch in der Digitalisierung hin. Es geht um einen tieferen Einstieg in die Funktionsprinzipien der Technik und da hat Informatik in der Schule ein gewisses Alleinstellungsmerkmal. Es ist das einzige Fach mit einer ingenieurwissenschaftlichen Bezugsdisziplin.

Das müssen Sie erklären!

Es ist ein Fach, in dem sich Schüler nicht nur mit der Technik an sich auseinandersetzen, sondern mit Herangehensweisen und auch Denkweisen dahinter. Sie fällt ja nicht im Silicon Valley vom Himmel, sondern wird von Menschen mit bestimmten Zielen gestaltet. Schüler brauchen ein Verständnis davon, wie diese Gestaltung abläuft und warum.

Prof. Dr. Michael T. Rücker ist Junior-Professor für Didaktik der Informatik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Prof. Dr. Michael T. Rücker ist Junior-Professor für Didaktik der Informatik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. © Universität Jena | Anne Günther

Inwiefern befördert denn technisches Wissen bei Zwölf- oder Vierzehnjährigen, die täglich bei TikTok oder Instagram unterwegs sind, eine kritische Nutzung?

Das neue Fach heißt Medienbildung und Informatik, da geht es auch um soziale Zusammenhänge, um Suchtverhalten oder um Mobbing und um die Frage, wie das zum Beispiel Elemente in der TikTok App beeinflussen. Alle kennen die Cookie Banner oder Pop-ups, die mit ihrer Gestaltung zum Klicken verleiten. Das muss man reflektieren und hinterfragen. Ein großes Thema ist das eigene Kommunikationsverhalten. Wenn ich vor meinem Bildschirm sitze und etwas schreibe, muss ich bedenken, was das möglicherweise mit einem Menschen am anderen Ende macht. Oder reden wir von Daten und ihrer Verwertung. Welche Informationen hinterlasse ich eigentlich bei TikTok, was weiß das Netzwerk über mich? Wie wird mein Nutzungsverhalten analysiert, welche Algorithmen stecken dahinter? Im Informatik-Unterricht kann man gewisserweise unter die Motorhaube schauen und erkunden, wie das funktioniert. Und Schüler können die Perspektive wechseln und selbst in die Rolle eines Entwicklers oder Anbieters schlüpfen. Die Erfahrung, welche Möglichkeiten das bietet und auch, welche Macht das verleiht, ist wichtig.

KI-Tools wie ChatGPT sind inzwischen auch in den Schulen angekommen. Welche Rolle sollte das Thema im Informatik-Unterricht einnehmen?

Es auszublenden wäre lebensfremd, aber ich wäre dennoch zurückhaltender. Ein grundlegendes Verständnis über die Funktionsweisen, Gestaltungsmöglichkeiten und eine kritische Sicht darauf sind wichtig, aber da wird derzeit auch viel überstürzt. KI ist ein Thema neben vielen anderen.

Gerade erst hat Pisa die Schwachstellen in Mathe und Naturwissenschaften offenbart, jetzt kommt dem Pflichtfach Informatik eine weitere Herausforderung. Wie schafft man Zugänge?

Es mag unspektakulär klingen: mit gutem Unterricht! Das ist mit Informatik nicht anders als mit anderen Fächern. Das Thema umgibt alle täglich, das ist ein guter Ausgangspunkt, um die Schüler in ihrer Lebenswelt abzuholen. Ob es die Entwicklung eines kleinen Spiels ist, einer Alarmanlage für das Kinderzimmer oder einer automatische Haustierfütterung: Es gibt allein beim Thema Programmierung viele Möglichkeiten.

Aber wo sollen die Lehrer herkommen, die das fachlich können?

Natürlich sind die personellen Herausforderungen riesig, Informatik ist bundesweit ein Mangelfach. Die Zahl der Lehramtsstudierenden für Informatik steigen zwar leicht an, aber es sind nach wie vor zu wenig. An der Universität Jena haben wir jedes Jahr fünf bis zehn Absolventen.

Wie sollen Thüringer Schulen das stemmen?

Mit Qualifizierung. Und die Kultusministerkonferenz hat Empfehlungen zur Ein-Fach-Lehrkraft oder dem Quereinstiegs-Master ausgesprochen. Es ist ein Abwägen. Wenn wir schneller Fachkräfte in die Schulen bringen wollen, müssen möglicherweise Abstriche bei der Ausbildung gemacht werden, das ist natürlich ein Dilemma, keine befriedigende Antwort. Aber es sind Konzepte, über die man zumindest nachdenken sollte, das muss die Politik entscheiden. Wir als Universität bieten uns dabei als konstruktiver Partner an. Es sind dicke Bretter, die gebohrt werden müssen.

Wird hier am Ende ein Pflichtfach eingeführt, das in der Fläche personell gar nicht abgedeckt werden kann?

Das Pflichtfach beginnt ja zunächst mit den 5. Klassen, der Bedarf wird stetig steigen. In den unteren Jahrgängen sind die Anteile der Medienbildung etwas größer, da gibt es Lehrkräfte mit Erfahrungen. Das verschafft uns etwas Luft. Aber jetzt muss viel Bewegung in Ausbildung und Qualifizierung kommen. Natürlich sind auch die Ausbildungsstrukturen bis hin zum Referendariat eingeschränkt, solange ein Fach noch nicht als Pflichtfach etabliert ist. Trotzdem muss man anfangen, das Pflichtfach Informatik ist dringend notwendig.