Erfurt. Die grüne Bundesvorsitzende Annalena Baerbock spricht mit uns über die Thüringer Landtagswahl am 27. Oktober, Windräder im Wald und die Frage, ob sich die Flüchtlingskrise von 2015 wiederholen kann.

Frau Baerbock, die Grünen waren mal bei 11 Prozent in den Umfragen, jetzt sind sie nur noch bei 7 oder 8 Prozent. Wird es noch einmal knapp?

Die Umfragen machen deutlich, es kommt auf jede Stimme an. Aber es war von Anfang an klar, dass sich dieser Wahlkampf am Ende auf die Frage zuspitzen wird: Kann die rot-rot-grüne Koalition weitermachen oder drohen instabile Verhältnisse. Ich bin überzeugt, dass diese erfolgreiche Regierung die Wahl gewinnen kann – am besten mit starken Grünen. Dafür werden wir bis Sonntagmorgen kämpfen. . .

. . . wobei nicht wenige Anhänger Ihrer Partei offensichtlich zur Union neigen. Laut einer neuen Umfrage wollen 39 Prozent der Grünen-Wähler eine Regierung, die von einer anderen Partei als der Linken geführt wird.

Ich sehe im Augenblick aber nicht, dass die CDU eine realistische Regierungsoption hat. Wir wollen dafür sorgen, dass es eine handlungsfähige, stabile Regierung gibt. Dabei fahren wir unseren eigenständigen, grünen Kurs. So machen wir in Regierungen den Unterschied.

Zum Beispiel?

In Thüringen hat Anja Siegesmund es geschafft, das einzige Klimaschutzgesetz in ganz Ostdeutschland auf den Weg zu bringen und hat als riesengroßes Projekt das Grüne Band eingeführt. In meinem Heimatland Brandenburg sind wir in den Verhandlungen die Treiber für einen Kohleausstieg, der mit einer guten Strukturentwicklung für die Region einhergeht. Da ist es übrigens mit der SPD schwieriger als mit der CDU. Bei anderen Themen sind wir wiederum deutlich näher an der SPD. Ich sehe dies als Stärke der Grünen. Wir wollen verändern, um zu erhalten. Insofern spielt das bewahrende Element eine Rolle bei uns: Klimaschutz, der Erhalt von Natur. Denken Sie an Winfried Kretschmann. . .

. . . Ihren Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg. Aber der war ja anfangs Kommunist . . .

. . . was mehr als 40 Jahre her ist, und er ist heute der größte Gegner jeder Form von ideologischer Verblendung. Winfried Kretschmann regiert seit 2011 erfolgreich und verlässlich. Wir haben eine Breite in der Partei, die uns stärkt und stehen bei zentralen Werten sehr nah beieinander.

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Auch hier bitte ein Beispiel.

Es gibt etwa bei der Ausgestaltung von einzelnen Handelsabkommen durchaus unterschiedliche Meinungen in unsere Partei. Aber wir werden von einem starken Grundkonsens getragen, den wir ins Konkrete übersetzen: Wir wollen freien Handel ermöglichen, der Menschenrechte, Klima und Umwelt schützt, zum Beispiel wollen wir über ein Lieferkettengesetz sicherstellen, dass keine T-Shirts aus Kinderarbeit bei uns verkauft werden.

Grundkonsens ist auch, dass die Grünen im Namen des Klimaschutzes den Individualverkehr mit dem eigenen Auto verteufeln. Dabei gibt es hier, im ländlichen Raum, wo viel gependelt wird, oft gar keine Alternative dazu. Verschrecken Sie nicht mit solchen Metropoldebatten systematisch Wähler?

Da möchte ich widersprechen. Ich komme vom Dorf in Niedersachsen und lebe nun in Brandenburg. Ich weiß sehr gut, wie viele Menschen im ländlichen Raum auf ein Auto angewiesen sind, um zur Arbeit zu kommen. Deshalb sagen wir ja bei unserem eigenen Klimaschutzpaket ganz klar, dass es im ländlichen Raum weiterhin Individualverkehr mit dem Auto geben wird. Perspektivisch aber mit emissionsfreiem Antrieb. Und dass Menschen ein Energiegeld erhalten sollen als Ausgleich für einen CO2-Preis. Jeder und jede bekäme dann 100 Euro ausgezahlt. Davon profitieren insbesondere Geringverdiener – und nicht, wie es jetzt die Bundesregierung will, in erster Linie die, die hohe Einkommen haben und viel pendeln. Und der Verkehr muss klimafreundlich werden, also eine bessere Anbindung an Bus und Bahn, damit man auch aus dem Kyffhäuser nach Erfurt zur Arbeit fahren kann.

Elektroautos sind ja in der Klimabilanz, wenn man alles einrechnet, oft auch nicht besser als Verbrennungsmotoren. Außerdem kostet die Technik sehr viel. Aber einmal abgesehen davon: Wie soll das praktisch funktionieren?

Thüringen ist ja dank Umweltministerin Anja Siegesmund Spitzenreiter beim Ausbau der Ladestationen. Das ist fast alles in den vergangenen fünf Jahren passiert. Im Übrigen ist der Elektromotor derzeit alles in allem die umweltfreundlichste und effizienteste Antriebsform – wenn die Batterien mit erneuerbarem Strom geladen und ordentlich recycelt werden. Und Elektroautos werden in den nächsten Jahren nicht nur an Reichweite gewinnen, sondern auch preiswerter werden.

Weil Sie oft Anja Siegesmund erwähnen: Sie hat sich kürzlich sehr aufgeregt, dass der linke Ministerpräsident Ramelow die DDR nicht als Unrechtsstaat bezeichnen will. Teilen Sie diese Empörung?

Ja. Es gab systematisches Unrecht in der DDR, auch im Zivilleben. Deshalb war die DDR ein Unrechtsstaat. Wenn Bodo Ramelow das so nicht sagen will, dann finde ich das bedauerlich. Die Debatte wurde doch schon vor fünf Jahren lange zwischen Linken, SPD und Grünen geführt. Es gab damals eine klare Formulierung dazu im Koalitionsvertrag, dass die DDR ein Unrechtsstaat war.

Auch ein Streitthema in der Koalition ist die Windkraft. Die Grünen kämpfen dafür, auch Windräder in den Wald zu bauen, dabei stehen gerade einmal zwei in Thüringen. Ist es so klug, sich bei diesem Thema zu „verkämpfen“?

Vor allem kämpfen wir für den Erhalt von Wald. In Thüringen investiert die Landesregierung 500 Millionen Euro in dessen Schutz und Umbau. Wälder stiften Identität, sind Orte der Erholung, Lebensraum für unzählige Pflanzen und Tiere. Wenn ich mal wieder so richtig durchatmen muss oder meine Kinder sich richtig auspowern müssen, gehe ich immer in den Wald. Und Klimaschutz wäre ohne Wälder nicht denkbar. Allerdings: Ohne Windräder auch nicht. Deswegen schließen wir den Bau von einzelnen Windrädern in reinen Monokultur-Nutzwaldforsten, wo ja eh gerodet wird, nicht aus. Da können Windräder ohne tiefgreifende Eingriffe aufgestellt werden. Wie Sie sagen, geht es aber um Einzelfälle.

Rodungen sind laut Thüringer Waldgesetz verboten.

Ich präzisiere: Wenn, dann geht es um Standorte, an denen die Bäume wegen Trockenheit oder Borkenkäfern ohnehin anfällig sind und wo man keinen gesunden Wald verliert. In Naturschutzgebieten und Erholungswäldern wird es ohnehin keine Windräder geben. Aber noch mal zur Einordnung: Von 840 Windrädern in Thüringen stehen zwei im Wald. Insofern ist die Debatte vielleicht etwas überdimensioniert.

Dann könnte man sie ja auch abräumen.

In Einzelfällen kann es sinnvoller sein, ein Windrad in einen Wirtschaftsforst zu bauen als zum Beispiel in die Nähe eines Dorfes. Aber genau das muss in regionalen Planungsgemeinschaften genau abgewogen werden. Das kann man am besten vor Ort.

Als Grüne haben Sie ja noch neben Anja Siegesmund einen weiteres Kabinett-Mitglied in Thüringen: Den Justiz- und Migrationsminister Dieter Lauinger, der im Wahlkampf gar nicht mehr vorkommt. Wird er versteckt?

Wieso? Dieter Lauinger hat gerade in der Integrationspolitik in Thüringen sehr gute Arbeit geleistet. Aber Anja Siegesmund ist zusammen Dirk Adam nun mal unsere Spitzenkandidatin in Thüringen und Dieter Lauinger hat sich entschieden, nicht wieder für den Landtag anzutreten.

Es sieht so aus, dass die Flüchtlingsbewegungen wieder zunehmen, wegen der erneuten Eskalation in Syrien, der Lage in der Türkei und anderem. Werden dann die Grünen wie 2015 an den Bahnhöfen stehen und Willkommen rufen? Oder haben Sie etwas dazu gelernt seit damals?

Dass Tausende Menschen Geflüchteten in Not geholfen haben, bei der Erstversorgung an Bahnhöfen oder in Notunterkünften, zeichnet unserer Gesellschaft aus. Ich will, dass Deutschland ein freundliches, weltoffenes Land bleibt. Aber niemand will, dass sich 2015 so wiederholt. Deshalb ist es wichtig, die Lehren aus 2015 zu ziehen: Wir brauchen eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik. Das heißt, ein gemeinsames Grenzkontrollregime an den EU-Außengrenzen, eine schnelle Registrierung und eine humane Unterbringung gleich bei der Ankunft. Dann müssen Geflüchtete fair verteilt werden. Wir haben dazu schon 2016 unsere Positionen geschärft, damit wir eine kluge Balance aus Humanität und Ordnung finden.

Selbst wenn es, was aussichtslos erscheint, einen funktionierenden Verteilmechanismus gäbe: Würde nicht Deutschland dann wieder, rein zahlenmäßig, die Hauptlast tragen?

Die Hauptlast liegt doch bei den Mittelmeer-Anrainern, Malta, Italien, Spanien, Griechenland, wo die Flüchtlinge ankommen und versorgt werden müssen. Die Zustände in den Lagern etwa sind in Griechenland unhaltbar. Wir können diese Länder nicht allein lassen. Aber wenn Sie auf die katastrophale humanitäre Lage in Nordsyrien nach dem Einmarsch der Türkei anspielen: Dort werden zigtausende Menschen in andere syrische Regionen und die Nachbarländer vertrieben. Hier muss die Bundesrepublik scharfe Konsequenzen ziehen und laufende Waffenexporte in die Türkei stoppen. Und wirtschaftspolitisch den Druck erhöhen: Der Bund darf wirtschaftliche Aktivitäten in der Türkei nicht länger durch Hermes-Bürgschaften absichern.