Die Sprecherin der israelischen Botschaft in Deutschland, Shir Gideon, hat eine ganz besondere Beziehung zu Buchenwald. Ihr Großvater überlebte das Konzentrationslager.

Diesen Text schreibe ich am 6. April 2020 in meiner Mietwohnung in Berlin. Ich schreibe ihn mit unendlicher Sehnsucht in Erinnerung an Alex Harel (Alexander Holländer), den Gefangenen Nr. A-7011 im Lager Auschwitz und einen freien Mann, der die Menschen im Leben und im Tod liebte, der mir Licht gab und tiefe Wurzeln in mich pflanzte, die es mir ermöglichten, den inneren moralischen Kompass in mir weiter zu erforschen und Tag für Tag danach zu handeln - gerade auch zur Vertiefung der israelisch-deutschen Beziehungen.

„Am 6. April 1945, als sie uns nicht mehr hinaus zur Arbeit brachten, bewegten wir uns frei auf dem Lagerplatz ... und wir wussten, dass sich die Kriegsfront näherte,“ lese ich in den Erinnerungen meines Großvaters über seine Befreiung aus Buchenwald.

Das Bild zeigt Alex Harel, den Großvater von Shir Gideon, in den 1950er-Jahren.
Das Bild zeigt Alex Harel, den Großvater von Shir Gideon, in den 1950er-Jahren. © Privatarchiv Harel

Es ist fast zwei Jahre her, seit ich den Posten als Pressesprecherin der Botschaft des Staates Israel angetreten habe, seit wir nach Deutschland gezogen sind, seit ich dieses Land kennenlerne und hier arbeite. Für israelische Diplomaten ist Deutschland nicht irgendein beliebiger Dienstort, und Berlin ist nicht nur für uns ein begehrtes Ziel. An den meisten Tagen konzentriert sich die diplomatische Arbeit auf die Gegenwart, darauf, Kontakte zu knüpfen, Botschaften zu vermitteln, Interviews und Artikel zu veröffentlichen, deren Ziel es ist, den Menschen in Deutschland den israelischen Blickwinkel aufzuzeigen. Aber in Berlin berühren wir mit unserer Arbeit auch viel tieferliegende Schichten. Das geschieht zwangsläufig in dieser Stadt, die eine wichtige Rolle in der deutsch-jüdischen Geschichte spielte und in der heute neue Kapitel in den israelisch-deutschen Beziehungen geschrieben werden.

Ein Jahr historischer Begegnungen

Neben unserer intensiven Arbeit zur Förderung der nationalen Interessen des Staates Israel haben wir auch die Aufgabe, weitere Säulen unseres Staates zu stärken: den Kampf gegen Antisemitismus und für das Erinnern an den Holocaust, aber auch den Wert gegenseitigen Vertrauens und aufrichtiger Freundschaft.

Das Jahr 2020 begann mit einer dreifachen Folge historischer Begegnungen. Zunächst hielt Bundespräsident Steinmeier eine Rede in Yad Vashem, mit Präsident Rivlin an seiner Seite. Die beiden Präsidenten beschritten danach gemeinsam die steinigen Pfade in Auschwitz, um der Befreiung vor 75 Jahren zu gedenken. Und schließlich umarmten sie sich am Brandenburger Tor, als Präsident Rivlin vor dem Bundestag sprach, dem deutschen Parlament. Dies war ein historischer Besuch, den die Mitarbeiter der Botschaft in Berlin hinter den Kulissen vorbereitet und begleitet haben. Die tiefe Freundschaft, die Israel und Deutschland im Lauf der Jahre aufgebaut haben, wird in einer Notfallsituation wie der jetzigen sichtbar. Deutsche und Israelis teilen die Leidenschaft, um die Welt zu reisen. Durch die intensive Zusammenarbeit zwischen uns und dem deutschen Außenministerium konnten nun Reisende aus beiden Ländern sicher nach Hause gebracht werden.

Es war unmöglich, nicht zu schweigen

In den vergangenen zwei Jahren wurde ich neben den beruflichen Herausforderungen auch mit den persönlichen Beziehungen konfrontiert, die meine Familie mit diesem einzigartigen Dienstort verbindet. Das ist nicht immer einfach in Worte zu fassen, und ich bin mir bewusst, dass dies ein wenig widersprüchlich ist, da ich immerhin Sprecherin der israelischen Botschaft bin. Wörter, zusammen mit der Fähigkeit, persönliche Verbindungen aufzubauen und aufgeschlossen zu sein, sind die Hauptinstrumente im Diplomatenberuf, und dennoch schwieg ich lange, weil es unmöglich war, nicht zu schweigen. Weil der Holocaust ein endloses Universum von Emotionen ist, das nicht der Zeit unterliegt. Und weil ich die Geschichte meines Großvaters schwarz auf weiß habe, geschrieben in seinen eigenen Worten, was es mir ermöglicht, darauf zurückzugreifen.

Das besondere Privileg der dritten Generation

Dieses Mal weiß ich genau, warum ich die siebenseitige Datei öffne, die 1926 beginnt und 2004 endet. Doch der Schmerz, den ich beim Lesen seiner Erinnerungen spüre, ist zu stark, und ich muss die Lektüre mehrmals unterbrechen. Es ist ein Privileg der dritten Generation, eine Pause von der Vergangenheit einlegen zu können.

„Am 11. April 1945 hörten sie damit auf, Menschen im Wald zu ermorden. Gegen 10 Uhr brachen russische und französische Kriegsgefangene durch den Zaun, nachdem die SS-Wachen das Lager verlassen und den Strom abgestellt hatten. Als die Kriegsgefangenen ausbrachen, gaben sie uns auch Waffen von den im Lager verbliebenen Deutschen und lehrten uns, sie zu bedienen.“

An diesem Samstag, dem 11. April, findet in Buchenwald ein virtuelles Gedenken statt – anstelle des geplanten Besuchs von 40 Überlebenden. Und wenn es diese Epidemie nicht gäbe, dann würde ich dort zusammen mit ihnen stehen und ob des Schmerzes meines eigenen Großvaters weinen, der heute 93 Jahre alt wäre, wenn er noch leben würde. Ich werde meinen Besuch nachholen müssen. Es wird dann ein Besuch sein ohne Zeremonien, die den 75. Jahrestag der Befreiung markieren, aber voller national-geschichtlicher und privat-familiärer Bedeutung.

„Meine Freunde und ich leiteten einen internen Zugverkehr zur nahe gelegene Stadt Weimar (morgens hin und abends zurück). Ich betätigte mich als Guide für Journalisten, Offiziere und Besucher der Armeen der Befreier, die ins Lager kamen. Wir haben ihnen das Lager gezeigt. Die Massengräber und die Krematorien. Ich hörte die Beschreibung eines Sprechers der US-Armee, als er berichtete, wie viele Menschen im Lager waren, wie viele noch übrig waren. 10.000 wurden ermordet und in Massengräbern im Wald begraben, und etwa 10.000 starben nach der Befreiung an Krankheit und Schwäche. Etwa 10.000 kranke und erschöpfte Menschen blieben übrig, die vom US-amerikanischen und britischen Militär versorgt wurden. Vor ungefähr zehn Jahren erhielt ich über Eli Wiesel die Tonbandaufnahme eines Berichts des Reporters Fred Friendly, in dem er beschrieb, wie er das Lager betrat und das Grauen zum ersten Mal sah.“

Shir Gideon ist Pressesprecherin der Botschaft des Staates Israel in Deutschland.
Shir Gideon ist Pressesprecherin der Botschaft des Staates Israel in Deutschland. © Botschaft des Staates Israel | Ruth Zuntz

Ich beginne im Internet nach dem Reporter zu suchen, in der Hoffnung, seine Aufnahme irgendwo zu finden. Auf der Website von Yad Vashem stoße ich tatsächlich auf den Autor des Berichts: Edward R. Murrow. Und ich erfahre, dass Fred diese 19-minütige Aufnahme jedes Jahr den Journalismus-Studenten der Columbia University zu hören gab. Ich nehme die Worte auf und mit ihnen die unerträglichen Bilder, die sie kreieren. Ich erkenne meinen Großvater unter den Menschen, die beschrieben werden, obwohl er nicht beim Namen genannt wird. Der Bericht endet mit den Worten: „Ich habe darüber berichtet, was ich gesehen und gehört habe, aber nur einen Teil davon. Für das meiste habe ich keine Worte.“

In den schriftlichen Erinnerungen meines Großvaters gehe ich noch weiter zurück, bis zum Block 25 in Auschwitz. In Auschwitz war er, bevor er nach Buchenwald deportiert wurde. Dort übernahm mein Großvater die gefährliche Aufgabe, Berichte aus der Zeitung „Völkischer Beobachter“, die sein Vorgesetzter bei der Arbeit las, an den Untergrund und die Leiter in den Blocks weiterzugeben. „Dies war die einzige Nachrichtenquelle von außerhalb des Lagers.“

Großvater wollte, dass ich Journalistin werde

Ich erinnere mich, dass mich mein Großvater einmal gefragt hat, was ich werden möchte, wenn ich groß bin. An meine Antwort erinnere mich nicht mehr, aber seine Antwort ist mir im Gedächtnis geblieben: Journalistin. Obwohl ich keine Journalistin geworden bin, bin ich definitiv eine Frau des geschriebenen Wortes. Seit fast zwei Jahren arbeite ich als Sprecherin der israelischen Botschaft mit Vertreterinnen und Vertretern der Presse in einem Beruf zusammen, der viel Ähnlichkeit mit journalistischer Arbeit hat.

Und so wurde meiner Familie am Vorabend des Gedenkens der Befreiung ein kleiner Moment der Katharsis gewährt; 75 Jahre nachdem mein Großvater in Buchenwald befreit wurde, 250 Kilometer von der Berliner Mietwohnung entfernt, in dem heute eine stolze Vertreterin des Staates Israel lebt.

Gedenken zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald

Gernot Süßmuth, Konzertmeister der Staatskapelle Weimar, spielt vor der Gedenkstätte Buchenwald für die Opfer des Nationalsozialismus Geige.
Gernot Süßmuth, Konzertmeister der Staatskapelle Weimar, spielt vor der Gedenkstätte Buchenwald für die Opfer des Nationalsozialismus Geige. © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Volkhard Knigge, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, kommt allein in die Gedenkstätte Buchenwald, um eine weiße Rose für die Opfer des Nationalsozialismus niederzulegen.
Volkhard Knigge, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, kommt allein in die Gedenkstätte Buchenwald, um eine weiße Rose für die Opfer des Nationalsozialismus niederzulegen. © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden. © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Gernot Süßmuth, Konzertmeister der Staatskapelle Weimar, spielt vor der Gedenkstätte Buchenwald für die Opfer des Nationalsozialismus Geige. 
Gernot Süßmuth, Konzertmeister der Staatskapelle Weimar, spielt vor der Gedenkstätte Buchenwald für die Opfer des Nationalsozialismus Geige.  © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden. © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Volkhard Knigge, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, kommt allein in die Gedenkstätte Buchenwald, um eine weiße Rose für die Opfer des Nationalsozialismus niederzulegen. 
Volkhard Knigge, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, kommt allein in die Gedenkstätte Buchenwald, um eine weiße Rose für die Opfer des Nationalsozialismus niederzulegen.  © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Gernot Süßmuth, Konzertmeister der Staatskapelle Weimar, spielt vor der Gedenkstätte Buchenwald für die Opfer des Nationalsozialismus Geige.
Gernot Süßmuth, Konzertmeister der Staatskapelle Weimar, spielt vor der Gedenkstätte Buchenwald für die Opfer des Nationalsozialismus Geige. © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
An der Stadtverwaltung Weimar sind Fahnen verschiedener Nationen angebracht.
An der Stadtverwaltung Weimar sind Fahnen verschiedener Nationen angebracht. © Sascha Fromm | Sascha Fromm
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Die Gedenkveranstaltungen zum 75. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora mussten wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden. © Sascha Fromm | Sascha Fromm
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