Erfurt. Die für den 22. Mai, vier Tage vor der Kommunalwahl, in Erfurt anberaumte Buchlesung mit dem umstrittenen SPD-Politiker Thilo Sarrazin hat in der Thüringer SPD eine Welle der Empörung ausgelöst.

Der SPD-Landesvorsitzende Wolfgang Tiefensee teilte mit: „Die Buchlesung mit Sarrazin ist ein unabgesprochener Alleingang von Oskar Helmerich, keine Veranstaltung der Thüringer SPD. Ich distanziere mich ausdrücklich und scharf von ihm und den islamfeindlichen Aussagen Sarrazins.“

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Thüringens SPD-Landeschef kritisiert Einladung Sarrazins zur Buchlesung in Erfurt scharf

Die SPD-Landtagsfraktion positionierte sich ebenfalls gegen die Aktion ihres justizpolitischen Sprechers Helmerich und erklärte: „Die Fraktion ist weder organisatorisch noch inhaltlich an einer Veranstaltung mit Thilo Sarrazin beteiligt, zu der der Abgeordnete Oskar Helmerich eingeladen hat. Es handelt sich weder um eine Veranstaltung der Fraktion noch der SPD Thüringen. Die Fraktion distanziert sich ausdrücklich von islamfeindlichen und rassistischen Thesen, zu denen wir die Thilo Sarrazins zählen.

Die SPD-Bundesspitze hatte im Dezember 2018 gegen Sarrazin zum dritten Mal ein Parteiausschlussverfahren eingeleitet, auch wegen islamfeindlicher Thesen in dessen jüngstem Buch „Feindliche Übernahme“, aus dem Sarrazin im Parksaal des Erfurter Steigerwaldstadions vorlesen will.

Shevchenko: „Die Veranstaltung gehört abgesagt“

„Sarrazin ist ein Rassist und Antisemit“, kritisierte am Wochenende auch der Landesvorsitzende der Thüringen SPD-Nachwuchsorganisation Jusos, Oleg Shevchenko. „Seine Thesen haben den Hass noch stärker gemacht und die Neue Rechte beflügelt. Sie sind das Gegenteil von Sozialdemokratie.“ Zudem forderte Shevchenko: „Die Veranstaltung gehört abgesagt.“

Oskar Helmerich denkt nicht daran. „Die Veranstaltung wird wie geplant stattfinden. Das öffentliche Interesse daran ist sehr groß. Viele Genossen aus der Parteibasis haben bereits ihr Kommen zugesagt“, sagte er unserer Zeitung.

Außerdem liege, „wie die SPD selbst bereits zweimal festgestellt hat, gegen Herrn Sarrazin nichts vor“. Die Schiedsgerichte der SPD hätten „bereits zweimal festgestellt, dass Herr Sarrazin sich nicht parteischädigend verhalten hat“, sagte Helmerich.

Er erneuere gern sein „Angebot an einen Genossen aus dem linken Parteiflügel an der Podiumsdiskussion teilzunehmen“. Die Forderung von Juso-Chef Shevchenko, die Veranstaltung abzusagen, wies Helmerich als nicht demokratisch zurück. „Ich verstehe, wenn nicht alle Genossen Herrn Sarrazins Meinung teilen“, sagte Helmerich. „Ihm das Wort zu verbieten ist jedoch nicht demokratisch.

Ahmadiyya-Sprecher Mohammad Suleman Malik: Sarrazin ist ein Rassist

Einer Diskussion mit Sarrazin aus dem Wege zu gehen, hält Mohammad SulemanMalik, Sekretär für externe Angelegenheiten der Ahmadiyya-Gemeinde in Erfurt , nicht für den richtigen Weg. „Herr Sarrazin ist in meinen Augen ein Rassist“, sagte Malik unserer Zeitung. „Genau das werde ich Herrn Sarrazin persönlich mitteilen. Auch falls es zu einem Streitgespräch zwischen uns kommen sollte.“

Nach bisheriger Planung ist im Anschluss der halbstündigen Buchlesung ein Streitgespräch unter anderem mit Thilo Sarrazin und Suleman Malik auf dem Podium vorgesehen.

Sarrazins Buch „Feindliche Übernahme“ enthalte „menschenverachtende Theorien“, sagte Malik. Sein Buch beweise, dass Herr Sarrazin ein Rassist sei. „Dagegen zu halten ist als Moslem meine Pflicht.“

„Meine persönliche Haltung als Muslim zu Herrn Sarrazin ist, dass dieser die Gesellschaft spaltet“, teilte Malik zudem schriftlich mit. „Er ist meiner Meinung nach mitverantwortlich für den immer mehr werdenden Hass und die antimuslimischen Ressentiments in unserer Bevölkerung. Und genau durch solche Debatten fühlen sich dann viele legitimiert, ihren Hass auf Muslime nicht nur verbal zu äußern, sondern in Taten umzusetzen, wie zuletzt in Christchurch.“

Die Ahmadiyya-Gemeinde sei grundsätzlich „bestrebt, auch mit Islamkritikern zu sprechen“. Deshalb habe man bereits zweimal ein „kritisches Gespräch mit der AfD-Landtagsfraktion“ geführt. Man dürfe Politikern wie Sarrazin und Parteien wie der AfD nicht die Deutungshoheit überlassen, sagte Mohammed Suleman Malik. Diese Gefahr bestehe, wenn man sich der Kontroverse im Gespräch nicht stelle.

Malik nennt ein Beispiel: „Als die AfD in Thüringen eine Broschüre gegen den Islam verfasste, haben wir als Reaktion auf diese Propagandaschrift eine Erwiderung veröffentlicht. Diese Erwiderung wurde viel öfter im Netz heruntergeladen als die eigentliche Broschüre. Durch die Widerlegung aller Vorwürfe konnten wir einer großen Leserschaft die Grundlagen des Islams vermitteln.“

Inwiefern Sarazins Thesen über Muslime von der Ahmadiyya-Gemeinde bereits widerlegt worden seien, könne jeder selbst überprüfen, sagte Malik, und zwar im Internet an dieser Stelle:

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Notwendig, Kommunikationskanäle zu öffnen und den Dialog zu ermöglichen

Auch das derzeitige Oberhaupt der Ahmadiyya Muslim Jamaat, Hazrat Mirza Masroor Ahmad, hat nach Maliks Angaben anlässlich der Londoner Friedenskonferenz im April 2017 gesagt: „Trauriger Weise verlieren wir anscheinend mit fortschreitender Zeit unsere Fähigkeit, zuzuhören und gegensätzliche Standpunkte und Perspektiven zu tolerieren. Kommunikationskanäle zu öffnen und den Dialog zu ermöglichen, ist notwendig. Andernfalls werden sich die Spannungen der Welt nur noch weiter vertiefen.“

„Vor diesem Hintergrund“, betonte Malik, „halten wir es für einen großen Fehler, den Dialog mit rechtskonservativen und rechtspopulistischen Kräften in der Gesellschaft zu meiden oder nicht zu führen. Stattdessen muss man den Anschuldigungen entschieden und geduldig entgegentreten.“ Dass mit dem 22. Mai 2019 bereits ein fester Termin für die Veranstaltung mit Sarrazin feststehe, habe ihn allerdings überrascht, merkte Malik an. Detaillierte Informationen hätten ihm bislang nicht vorgelegen.

Helmerich wolle bisherige AfD-Wähler durch kritische Auseinandersetzung zurückgewinnen

Der SPD-Landtagsabgeordnete Oskar Helmerich – der 2015 die Thüringer AfD-Landtagsfraktion im Streit um die Ausrichtung der Partei unter Parteichef Björn Höcke verlassen hatte, dann zunächst parteiloser Landtagsabgeordneter war und nach einer kontroversen Debatte innerhalb der SPD 2016 in die SPD-Landtagsfraktion aufgenommen wurde – sieht in der Einladung an Thilo Sarrazin eine „Maßnahme, die in das politische Konzept der Thüringer SPD passt, um Wähler zu werben, die zur AfD abgewandert sind“.

Er wolle bisherige AfD-Wähler durch kritische Auseinandersetzung zurückgewinnen, aber „nicht durch Anbiederung“, konkretisierte SPD-Parteichef Wolfgang Tiefensee am Wochenende. Vor einer Woche hatte Tiefensee öffentlich angekündigt, die Thüringer SPD werde im aktuellen Landtagswahlkampf versuchen, Wähler zurückzugewinnen, die auch sie an die AfD verloren hatte.

Der Dresdner Politikprofessor Werner Patzelt, selbst CDU-Mitglied, der bundesweit als einer der profundesten Analytiker der Entwicklung der AfD gilt, bewertet die Einladung Sarrazins zur Buchlesung samt Diskussion als Coup.

Sarrazin habe als einer der ersten Politiker die politischen und gesellschaftlichen Probleme beschrieben, um die herum später die AfD groß geworden sei. „Eine Diskussion über Themen, die die Gesellschaft bewegen, ist ein wichtiger Schritt, um die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden, und die Voraussetzung, um dem billigen Populismus der AfD etwas Substanzielles entgegenzusetzen“, sagte Patzelt unserer Zeitung. „Es geht um die Herstellung der Kommunikation, die unserer Gesellschaft leider fehlt. Die Thüringer SPD gehört dafür gelobt uns gepriesen.“

Oskar Helmerich sieht sich auch durch das Ergebnis einer Online-Umfrage der Tageszeitung „Die Welt“, die die Berichterstattung unserer Zeitung aufgegriffen hat, bestätigt. Die zur Abstimmung gestellte Frage lautete: „Sollte Sarrazin aus der SPD ausgeschlossen werden?“ Mehr als 15.500 Voten gingen bis Sonntagmittag ein. 93 Prozent antworteten auf die Frage nach einem Parteiausschluss Sarrazins mit „nein“.

Helmerich sieht sich nicht politisch infrage gestellt

SPD-Mann Helmerich sieht sich durch die Einladung an Sarrazin nicht politisch infrage gestellt. „Ich befürchte keine Parteiausschlussdebatte gegen mich“, sagte er auf Nachfrage. Die SPD-Bundesvorsitzende Andrea Nahles mit der von dieser propagierten Ausrichtung der SPD als eine dezidiert linke Partei sei „ein Grund, warum SPD-geneigte Wählerschichten die SPD verlassen“ hätten. „Die SPD braucht mehr Tiefensee und weniger Nahles.“

Für Kevin Groß, Mitglied der SPD-Fraktion im Stadtrat von Erfurt, braucht die SPD eventuell weniger Helmerich. Im Internet notierte Groß mit ironischem, sarkastischem Unterton: „Ein ausdrücklicher „Dank“ übrigens an Leute, die Oskar Helmerich, damals zwecks Mehrheitsbeschaffung, in die Partei geholt haben. Habt ihr ganz toll gemacht! Danke Holger Poppenhäger, Danke Andreas Bausewein, Danke Frank Warnecke, Danke Danke, Danke.“

Kontroverse innerhalb der SPD um Sarrazin-Auftritt