Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird 65 Jahre alt – und sieht sich mit einer ungewohnten persönlichen Krise konfrontiert.

Die 65 ist eine markante Zahl. Für die meisten Arbeitnehmer bedeutet dieser Geburtstag den Abschied aus dem Berufsleben. Zeit, innezuhalten. Angela Merkel wird all das in diesen Tagen auch durch den Kopf gehen. Vielleicht nicht am heutigen Mittwoch, an ihrem Geburtstag. Da ist der Alltag der Regierungschefin mit Kabinettssitzung und den Gedanken über einen neuen Verteidigungsminister noch zu dominierend. Aber spätestens zu Beginn ihres dreiwöchigen Urlaubs am Wochenende wird sie sich diese Frage stellen. Stellen müssen.

Ein Geburtstagsgeschenk wird Merkel jedoch genießen können. Die Tatsache, dass mit Ursula von der Leyen nun eine deutsche Frau an der Spitze der EU-Kommission steht, ist bereits ein Teil eines politischen Vermächtnisses, das Merkel hinterlässt. Sie hat im Herbst ihrer Amtszeit in Europa noch einmal ihre Macht spielen lassen. Zwar improvisiert, aber erfolgreich. Was ihr denn der 65. Geburtstag persönlich bedeute, wurde sie jüngst gefragt. Ihr werde bewusst, „dass man immer älter wird“, antwortete die Kanzlerin. Zwar sei der 65. nicht ganz so markant wie der 60. oder der 70. Geburtstag. Aber er bedeute eben auch: „Dass man nicht jünger wird. Aber erfahrener. Vielleicht. Alles hat seine gute Seite.“

Privates hält sie bedeckt

Das „Vielleicht“ in der Antwort der langjährigen deutschen Regierungschefin ist interessant. Denn Merkel macht in ihrer vierten Amtszeit gerade Erfahrungen, die neu sind für die pragmatische Frau an der Spitze des Landes. Denn rund um ihren Geburtstag muss sie etwas tun, was sie regelrecht verabscheut – in guten wie in schlechten Zeiten: über sich selbst reden, Befindlichkeiten mitteilen, Schwächen öffentlich machen. Sie trägt ihre Stärken nicht besonders nach außen, eine gewisse Bescheidenheit ist ein hervorstechender Charakterzug der Ostdeutschen. Dafür aber hält sie alles Private sorgsamst bedeckt, auch öffentliche Emotionen versagt sie sich meistens. Abgesehen von einigen trockenen Kommentaren hier und da lässt sie die Öffentlichkeit meist nicht an ihren Gedanken und Gefühlen Anteil haben.

In den Wochen rund um ihren Geburtstag kann sie diese Haltung nun nicht mehr länger einnehmen. Grund sind die drei Zitteranfälle in der jüngsten Zeit bei öffentlichen Auftritten. Die Doktorin der Physik muss einer Weltöffentlichkeit ihre heftigen Schwindelattacken darlegen, vor Staatsgästen über ihren Gesundheitszustand reden. Das läuft ihrer Natur sehr zuwider, es sei eine „schwierige Prüfung“, heißt es aus ihrem Umfeld. „Die zitternde Frau“ lautet der Titel eines Buches der US-amerikanischen Autorin Siri Hustvedt – Merkel soll es als Urlaubslektüre bereits eingepackt haben.

Die Regierungschefin hat in ihren bald 14 Jahren im Amt eine Menge Dramatik erlebt: Die Finanzkrise. Die Eurokrise. Und schließlich die Flüchtlingskrise 2015. Diverse Koalitionskrisen. Jetzt eine eigene Gesundheitskrise.

Die Kanzlerin muss sich eingestehen, dass ihr Körper nicht immer das macht, was der Geist von ihm will. Sie habe sich untersuchen lassen, heißt es, aber gefunden wurde bislang nichts. Nach dem jüngsten Anfall an der Seite des Finnen Antti Rinne hat Merkel pragmatisch reagiert. Bei zwei Besuchen ausländischer Regierungschefs lässt sie zu den militärischen Ehren einfach zwei Stühle auf das rote Podest im Ehrenhof des Kanzleramt stellen. Sonst wird den Nationalhymnen hier stehend gelauscht. Pfeif aufs Protokoll, lieber keinen neuen Anfall riskieren. Doch wer die „eiserne Kanzlerin“ – wie sie an Bord ihrer Flugzeuge bei Auslandsreisen manchmal scherzhaft genannt wird – erlebt, der kennt ihre eiserne Disziplin und die Fähigkeit, ohne viel Schlaf auszukommen. Der sieht auch, wie sie an allen Orten der Welt darum kämpft, Haltung zu bewahren – komme, was da wolle. Der ahnt, wie schwer es ihr fällt, bei der deutschen Hymne nicht aufrecht zu stehen. Sie sei „fest davon überzeugt, dass ich gut leistungsfähig bin“, versuchte Merkel, Zweifel auszuräumen, dass sie ihr Amt noch richtig ausfüllen kann und spricht von einer „Verarbeitungsphase“ des ersten Zitterkrampfes. Mehr Details gibt sie nicht preis. Die Dauerbelastung in einem der kräftezehrendsten Jobs der Welt – auch Merkel muss ihr Tribut zollen.

Die 18 Jahre an der CDU-Spitze mit internen Rangeleien und die Jahre als Regierungschefin mit Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit haben Spuren hinterlassen. Den Tod ihrer Mutter Herlind Kasner im April soll Merkel noch nicht wirklich verarbeitet haben. Es gab einfach keine Pause. Damals teilte sie auch engen Unionskollegen nichts genaues über die Umstände des Todes mit. Nachwirken dürfte auch die schwere Unionskrise aus dem vergangenen Sommer. Der Streit mit den CSU-Oberen um Horst Seehofer verletzte Merkel nachhaltig.

An Weihnachten länger im Amt als Adenauer

Sollte die große Koalition dieses Weihnachten erreichen, dann ist die ehemalige CDU-Chefin länger im Amt als der erste Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer. Dann wäre nur noch Altkanzler Helmut Kohl mit 16 Jahren länger an der Macht geblieben. Ob sie diese Zahl erreicht, ist unklar: In der Koalition wird mehr und mehr mit Neuwahlen im Frühjahr nächsten Jahres gerechnet. Merkel würde dann aus dem Amt scheiden, früher als geplant. Den Kohl-Rekord einzustellen ist ihr gleichgültig. Sie meint es ernst damit, sich nach dieser Legislatur vollständig aus dem politischen Leben zurückzuziehen. Sie hätte dieser Tage etwa als EU-Ratspräsidentin nach Europa wechseln können. Angebote gab es genug. Dass man ihr ihre Absage an alle politischen Ämter lange nicht geglaubt hat – das hat sie sehr verwundert, fast gekränkt.

In welcher Form gratuliert man dieser Kanzlerin? Einer, der das seit Jahren tut, hat eine schnelle Antwort parat: „So wie sie das auch immer macht: Kurz und schmerzlos – nur ja kein Pathos!“ Merkel selbst hatte an ihrem 60. Geburtstag ihren politischen Begleiter Seehofer zitiert: „Wenn es heute schön ist, muss es morgen nicht genauso sein. Das ist das Wesen von Politik.“ An ihrem 65. Geburtstag denkt sie wahrscheinlich genau andersherum.