Erfurt. Rüdiger Schütz leitet eine Schule in Jena und sagt: Mangelverwaltung frisst Zeit und Energie, die Pädagogen für anderes brauchen.

Manchmal kommt Rüdiger Schütz mit seiner Aktentasche in die Schule, die gefüllt ist, als wäre er vorher über einen Trödelmarkt gelaufen: Feldpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg, ein Eisernes Kreuz aus dem Zweiten, Geldscheine und Ausweise aus der DDR...

Mit solchen Dingen, sagt er, kriegst du die Schüler. Geschichte ist doch nichts Abstraktes, das ist auch die Summe gelebter Leben, das sind Schicksale, Emotionen, Abenteuer. So hat er sich damals mit Geschichte infiziert. Als Kind ist er mit den Digedags durch die Zeiten gereist, die alten Mosaikhefte bringt er manchmal heute in den Unterricht mit. Ein Geschichtslehrer, bemerkt er, ist im Grunde ein Geschichtenerzähler.

Seit 1980, seit er in Jena sein Studium abgeschlossen hat, ist er Lehrer an dieser Schule. Außerdem und vor allem aber ist er Schulleiter, seit zwölf Jahren schon. Ein Posten, um den sich Lehrer bekannterweise nicht gerade streiten. Warum tut man sich das an? Er lacht, gute Frage. Im Ernst, sagt er, hat auch das mit Geschichte zu tun. Mit der Mauerfallgeschichte, der Umbruchgeschichte, als auch in den Schulen alles auf null stand.

Eine Schule für alle

Wehrkunde, ideologischer Staatsbürgerunterricht... Was aus der Schule heraus muss, war einfacher zu beantworten, als die Frage, wie sie künftig sein sollte. Für sein Kollegium stand damals nur eines schnell fest: Ihre Schule sollte keine POS mehr sein, aber auch kein Gymnasium, es sollte alle Abschlüsse anbieten. Eine Schule für alle. Sie wurde eine der ersten drei Integrierten Gesamtschulen in Thüringen. Er hatte sich damals stark im „Unabhängigen Interessenverband Demokratische Bildung und Erziehung“ engagiert, den Lehrer landesweit gründeten. Später war er viel mit Kollegen im alten Bundesgebiet unterwegs: Montessorischulen, Regenbogenschulen, Waldorfschulen, offener Unterricht... Pädagogische Konzepte, Schulmodelle, die sie höchstens vom Hören kannten. Die kurze Zeit des Aufbruchs schien voller Möglichkeiten zu stecken, versprach neue Freiheiten. Auch das ist Geschichte.

63 Lehrer gehören zum Kollegium, für 640 Schüler in 29 Klassen und Stammkursen, von Klasse 5 bis 13. Personell, sagt er, sind wir gut aufgestellt. Ein Satz, den man selten hört von einem Schulleiter, das ist ihm klar. Wenn sie einen Lehrer in einem der berüchtigten Mangelfächer wie Musik oder Chemie suchen, hat eine Schule in Jena natürlich die besseren Karten als eine Schule auf dem Land hinter Gera oder Altenburg.

Bis 2014 war Rüdiger Schütz Vizevorsitzender der Bildungsgewerkschaft GEW Thüringen, er leitet dort noch heute die Arbeitsgemeinschaft der Schulleiter. Die Nöte, an denen sich Kollegen anderer Schulen täglich abarbeiten müssen, kennt er gut: Fehlende Lehrer, Fachunterricht, der über Wochen oder Monate nicht erteilt werden kann, Langzeiterkrankungen ausgebrannter Kollegen, Unterrichtsausfall.

Zwei Jahrzehnte wurde in Thüringer Schulen kaum eingestellt

In seiner Schule wurden in den vergangenen drei Jahren sechs neue Kollegen eingestellt, aber in den kommenden Jahren werden mindestens sechs in den Ruhestand gehen. Auch für Rüdiger Schütz ist dieses Schuljahr das letzte. Der Altersdurchschnitt in seinem Lehrerzimmer beträgt 52 Jahre.

Dass es der Bildungsminister schaffte, der Finanzministerin ein Einfrieren des Stellenabbaupfades für Lehrer abzutrotzen, findet er bemerkenswert. Überhaupt sei endlich vieles in Gang gekommen, auch wenn viele Schulen von den Effekten noch nichts spüren, das werde dauern. Fast zwei Jahrzehnte wurde in Thüringer Schulen kaum eingestellt.

Doch es gibt, bemerkt er, auch genügend aktuelle hausgemachte Probleme. Die gefühlte Ewigkeit zum Beispiel, die viele Bewerber in Thüringen nach wie vor auf eine Stellenzusage warten. Die Zwangspausen, die angehende Lehrer zwischen Studium und Referendariat und von dort in die Anstellung einlegen müssen, die Unsicherheit, die für sie damit verbunden ist. Er kennt die Klagen von Lehramtsstudenten, sein Haus ist Ausbildungsschule. Die fehlenden Antworten auf die Frage, wie das Land junge Lehrer in ländliche Regionen bringen will. Auf Idealismus kann man nicht setzen, sagt er, da müssen Anreize geboten werden. Nicht irgendwann, sondern jetzt.

Schule muss etwas bewegen. Dieses Credo hat ihn durch die wilde Aufbruchszeit getragen, daran hält er bis heute fest. Ein schöner Satz, einer, den gewiss die meisten Kollegen unterschreiben würden. Doch was bleibt von ihm in Zeiten von Mangelverwaltung ?

Fachunterricht verlangt neue Antworten

Genau darin, sagt der Schulleiter, liegt ja auch das Fatale an der Situation. Die Energien, die das tägliche Krisenmangamant frisst, brauchen Lehrer eigentlich für anderes. Hier wächst eine neue Generation in eine neue Zeit hinein und Schule muss damit umgehen.

Digitalisierung zum Beispiel, ein Schlagwort, aber im Alltag beginnt es schon mit Smartphones im Unterricht. Verbieten? Ist es nicht sinnvoller, die allgegenwärtige Vernetzung der Schüler mit dem Internet klug im Unterricht einzusetzen? Wie könnte das gestaltet werden?

Oder die Inklusionsfrage. Er findet es richtig, dass im neuen Schulgesetz die Schärfe herausgenommen wurde, mit der ursprünglich das gemeinsame Lernen forciert werden sollte, dass Förderzentren zumindest bis auf Weiteres bestehen bleiben sollen. Und weiter? Die Zahl der Schüler, die in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung Förderbedarf haben, wird in Zukunft weiter steigen, ist er sich sicher. Wie gehen Schulen künftig damit um? Mit ideologischen Lösungen jedenfalls werde man nicht weiterkommen.

Auch der Fachunterricht verlangt neue Antworten. In seinem Fach zum Beispiel kommt man am Ende der zehnten Klasse bis zum Verschwinden der DDR. Was danach geschah, findet nicht statt. Dabei, bemerkt er, haben wir inzwischen die zweite Nachwende-Generation in den Schulen.

Ein Bürokratiemonster

Bevor Schule bewegen kann, muss sie sich selber bewegen. Impulse setzen, Diskussionen im Kollegium anregen, kreative Lösungen finden und probieren: Eigentlich wäre das eine grundhafte Aufgabe für einen Schulleiter. Aber dafür findet er selten die Zeit, weil die von den bürokratischen Pflichtübungen geschluckt wird. Das Schulbudget zum Beispiel schöpfen sie inzwischen nach langen Mühen aus. Dabei hatten die Bewerber für die Angebote Schlange gestanden. Doch bis all die Anträge, Tätigkeitsbeschreibungen und Genehmigungen fertig waren, gingen Monate ins Land. Ein Bürokratiemonster, stöhnt er im Rückblick. Dabei heißt er ja immer noch Schulleiter, nicht Verwalter. Ein solcher, erlaubt er sich einen kühnen Traum, würde für pädagogische Arbeit an den Schulen viel Zeit freisetzen.

Was ist ein guter Lehrer? Empathie, sagt er, ist der Schlüssel. Ein guter Lehrer verliert nie den Blick auf den einzelnen Schüler, weil jeder Schüler anders ist. Ein guter Lehrer hinterlässt Spuren im Leben seiner Schüler, weil er Weichen stellt. Dafür braucht er aber auch Arbeitsbedingungen, die ihm das möglich machen.

Landtagswahl in Thüringen 2019

Parteien zur Schulpolitik

  • Linke: Auch künftig soll jeder ausscheidende Lehrer ersetzt, die Vertretungsreserve auf zehn Prozent des Gesamtpersonals erhöht werden. Weitere Ziele: Gleiche Bezahlung aller Lehrer, 100-Prozent-Arbeitsverträge für Hort-Erzieherinnen und die Abschaffung der Elterngebühren im Hort, die digitale Ausstattung und der weitere Abbau des Sanierungsstaus an Schulen.
  • CDU: Die Union sieht ihre Priorität in Lehrergewinnung und Unterrichtsabsicherung. Sie spricht sich für Leistungsanreize aus, will Lehrer von Bürokratie entlasten, die Ausbildungsplatzkapazitäten an den Universitäten und Studienseminaren erhöhen und effektivere Einstellungsverfahren ermöglichen.
  • SPD:Jeder ausscheidende Lehrer soll weiterhin eins zu eins ersetzt werden. Um das zu beschleunigen, sollen Schulen künftig selbst Bewerber auswählen können. Die Partei plädiert für die Anhebung der Grundschullehrerbesoldung auf A 13, ein Stipendienprogramm in Mangelfächern und Anreize für einen Einsatz im ländlichen Raum.
  • Grüne: Für zukunftsfähige Schulstrukturen sind für die Grünen Schulkooperationen vor allem von kleineren Schulen notwendig. Damit Ausfälle im Schulbetrieb besser abgedeckt werden können, wird eine 110-prozentige Personalausstattung angestrebt. Die Stellen für Schulsozialarbeit sollen bis zum Jahr 2025 verdoppelt werden.
  • AfD:Die Partei will die Bewerbungsverfahren für Lehrer erheblich beschleunigen, Pädagogen von „Bürokratie, Ideologie und einer vollkommen falsch angepackten Inklusion“ befreien. Auch kleine Schulen und alle Schularten sollen demnach erhalten werden.In der aktuellen Notlage sollen Lehrer aus der Schulverwaltung in die Schulen beordert werden.
  • FDP: Die Liberalen wollen das Konzept der selbstbestimmten Schule auf den Weg bringen. Schulen müssten frei über Profil, Budget und Personal entscheiden können. Dazu gehört aus Sicht der Partei auch die Angleichung der Besoldung und bessere Ausbildung von Quereinsteigern.