Erfurt. Thilo Sarrazin warnt in Erfurt vor einer „demografischen Überwältigung Europas“ durch den Islam. SPD-Landeschef Wolfgang Tiefensee distanziert sich erneut von der Veranstaltung. Er appelliert, die Folgerungen von Sarrazins Texten zu bedenken.

Wolfgang sagte Thilo zu Thilo Sarrazin und sagte Oskar zu Oskar Helmerich. Und Thilo sagte Oskar. Und Oskar sagte Thilo und sagte Wolfgang zu Wolfgang Tiefensee, dem Thüringer SPD-Landesvorsitzenden.

Die drei SPD-Mitglieder duzten sich an diesem Mittwochabend, wie Genossen es gern tun – als hätte es den sechswöchigen verbalen Schlagabtausch im Vorfeld der Podiumsdiskussion mit dem vom Parteiausschluss bedrohten SPD-Mitglied Thilo Sarrazin niemals gegeben. Als hätte kein Thüringer Sozialdemokrat den Thüringer SPD-Landtagsabgeordneten Oskar Helmerich, den Organisator des Abends, jemals zum Rücktritt aufgefordert, ihm jemals eine rechtspopulistische Gesinnung unterstellt oder ihm die ehemalige AfD-Zugehörigkeit vorgeworfen.

Mehr als 500 Gäste, gut 300 Männer, knapp 200 Frauen, im gut gefüllten Parksaal der Erfurter Steigerwaldstadions erlebten einen unter Personenschutz stehenden Autor des Buches „Feindliche Übernahme“, der keine Sentenz, die er wissenschaftlich belegen zu können behauptet, scheute.

„Der Islam ist keine Religion des Friedens und der Toleranz, sondern eine politische Ideologie, die zur Gewalt neigt und sich als Religion darstellt“, sagte der ehemalige Berliner SPD-Finanzsenator Sarrazin. Außerdem sei die „wachsende Neigung zu religiösem Fundamentalismus und Terrorismus“ der Versuch von Muslimen, die von ihnen selbst wahrgenommene Rückständigkeit in Wissenschaft und Technik durch aggressives Verhalten zu kompensieren.

Redebeiträge der Ahmadiyya-Vertreter von Zwischenrufen gestört

Eine besondere Gefahr für Europa sehe er in der drohenden „demografischen Überwältigung“ durch den Islam, sagte Sarrazin. Die hohe Kinderrate in muslimischen Ehen führe nach seinen Berechnungen dazu, dass in 40 bis 60 Jahren in Europa die Mehrheit der Menschen im Alter bis zu 40 Jahren muslimischen Glaubens seien.

Während Statements wie diese im Publikum Beifall freisetzten, saßen auf dem Podium neben Helmerich und Sarrazin die beiden Mitglieder der muslimischen Ahmadiyya-Gemeinden aus Frankfurt am Main und Erfurt, Khola Hübsch und Suleman Malik, und hörten geduldig zu – bis sie ausführlich widersprachen, was wiederum von einigen Gästen im Auditorium mit manchmal schwer verständlichen Zwischenrufen unterbrochen wurde.

Was Sarrazin darlege, sei nicht grundsätzlich falsch, merkte Khola Hübsch, von Beruf Journalistin, an. Doch die radikale salafistische Auslegung des Islams, auf die Sarrazin vor allem abhebe, sei „nicht der ganze Islam“, sagte Hübsch. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung würden sich außerdem 90 Prozent der Muslime in Deutschland zur Demokratie bekennen.

„Sie verkaufen das Publikum für dumm, was den Koran angeht“, reagierte Sarrazin darauf. Im Saal starker Applaus! Wenn etwa 65 Prozent der in Deutschland lebenden Türken den Autokraten Erdogan wählten, sei dies ein starkes Indiz, „dass die demokratische Saat nicht aufgegangen ist, obwohl diese Menschen bereits ein halbes Jahrhundert hier leben“.

Ahmadiyya von anderen Muslimen als Ketzer betrachtet

Suleman Malik, Sprecher der Erfurter Ahmadiyya-Gemeinde, warf ein, er sei optimistisch, dass der wertekonservative Islam der Ahmadis die Weltprobleme lösen könne.

Angesichts von weltweit zwölf Millionen Anhängern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft, die von den meisten der mehr als zwei Milliarden Muslime als Ketzer betrachtet und auch verfolgt werden, teile er diesen Optimismus nicht, ließ Sarrazin durchblicken.

„Ich erkenne nicht, dass der Islam insgesamt in eine liberale Richtung geht“, wandte Sarrazin ein. Die Ahmadis müssten glücklich sein, dass sie nicht in einem Staat mit muslimischer Mehrheitsgesellschaft lebten, sondern in einem toleranten Rechtsstaat wie Deutschland das Recht hätten, ihre Religion frei und ohne Verfolgung auszuüben.

In der Tat sei sie darüber froh, sagte Hübsch. Doch leide sie darunter, dass ein Buch wie Sarrazins „Feindliche Übernahme“ bei vielen Lesern dazu führe, dass man leicht pauschal allen Muslimen Rückständigkeit unterstelle.

Auch Tiefensee wird von Schreien und Buh-Rufen übertönt

Ähnliche Bedenken hatte in seiner Stellungnahme vor Beginn der Podiumsdiskussion auch Thüringens SPD-Landeschef Wolfgang Tiefensee geäußert. „Wer Beifall klatscht, darf nicht nur Beifall dazu klatschen, dass Fakten zusammengetragen worden sind“, sagte Tiefensee in Anspielung auf Sarrazins faktenreiches Sachbuch, „sondern der muss sich fragen, was folgt daraus, wenn wir es weiterdenken. Wenn man Menschen und sei es nur statistisch, an Religion, Ethnie, vielleicht an Hautfarbe einsortiert, ist man sehr schnell dabei, dass man sie stigmatisiert. Dann ist man sehr schnell dabei, dass man pauschal urteilt. Ist man sehr schnell dabei, dass man sie ausgrenzt. Das ist nicht unser Menschenbild. Würde des Menschen heißt, dass man jede einzelne und jeden einzelnen allein deshalb die Würde zuspricht, weil er Mensch ist.“

Es gehe darum, „weiterzudenken, wenn ich ausgrenze“, appellierte Tiefensee an die Zuhörer. „Wenn ich eine bestimmte Religion oder Ethnie in unserem Land nicht haben will, dann ist die Frage, die wir uns gemeinsam stellen müssen: Wie soll das geschehen? Und deshalb bitte ich Sie.“ Aber an dieser Stelle wurden Tiefensees Worte, die er ins Saalmikrofon sprach, von Schreien übertönt. „Buh!“ „Aufhören! Aufhören! Aufhören!“ Buh! Buh! Buuuuh!“ Als seine Stimme wieder zu vernehmen war, sagte Wolfgang Tiefensee: „Bitte bedenken Sie, das eine sind Fakten, Statistiken. Bitte denken Sie, was folgt daraus. Und wollen wir das?“

Helmerich: Politik muss auf die Menschen hören

Thilo Sarrazin warnte vor jeder Dominanz von Religion. Ob christlicher Glaube, ob jüdischer Glaube, ob muslimischer Glaube – niemals dürfe eine Religion die Herrschaft im Staat übernehmen, sagte Sarrazin, auf den wahrscheinlich bedeutendsten Kulturhistoriker des 19. Jahrhunderts, Jacob Burckhardt, rekurrierend. Sonst unterwerfe die Religion den Staat.

Das Schlusswort des Abend hatte der in vergangenen Wochen heftig kritisierte SPD-Landtagsabgeordnete Oskar Helmerich. „Ich möchte nicht“, sagte er, „dass Deutschland ein islamischer Staat wird.“ Applaus brandete auf. „Und unsere Politiker, die sich bisher weigern, dieses Thema ernsthaft auf ihre Agenda zu legen, sollten endlich aufhören, die Dinge wegzuschweigen, wie sie sich bei der Bevölkerung darstellen.“ Der Politiker, sagte Helmerich, müsse auf die Menschen hören. „Das fehlt der Politik, und deswegen verliert die Politik auch immer mehr Vertrauen.“

Dank, sagte Helmerich, „an den Genossen Thilo“. Den Schluss des Satzes schluckte der Applaus.