Erfurt. Beim Talk „Am Anger“ von Thüringer Allgemeine und Salve TV blicken die Forstministerin und ein Artenschutzexperte auf Thüringens größten Patienten, dem es nach zwei Dürrejahren miserabel geht

Den immer neuen Schreckensmeldungen dieses Frühjahrs und Sommers konnte sich kaum jemand entziehen: Nach zwei extremen Dürrejahren in Folge geht es dem Thüringer Wald, der immerhin ein Drittel der Fläche des Freistaates ausmacht, miserabel. Das Grüne Herz Deutschlands, es leidet.

Etwa drei Millionen Festmeter Fichte sind – Stand jetzt – vom Borkenkäfer befallen, weil die Bäume wegen Wassermangels nicht mehr ausreichend Harz zur Abwehr des Schädlings bilden konnten. Und selbst die bislang als robust geltenden Buchen, die noch fast allen Unbilden trotzten, sterben infolge der Trockenheit zu Zigtausenden ab. 40.000 Hektar Waldfläche sind allein in Thüringen bereits ein Opfer der Dürre geworden. Das entspricht der Fläche von 56.000 Fußballfeldern oder der des gesamten Stadtgebiets der Millionenstadt Köln.

Beim Polit-Talk, zu dem die Moderatoren Sarah Kolling von Salve TV und TA-Chefredakteur Jan Hollitzer neben Görner auch Thüringens Forstministerin Birgit Keller (Linke) eingeladen haben, geht der Artenschützer sogar so weit zu sagen, dass Kahlschlagflächen von maximal vier Hektar Größe, wie sie früher das Landschaftsbild prägten, aus Sicht der Artenschützer durchaus einen Sinn hatten. Denn dort stellten sich, sagt Görner, ganz von allein und ohne Zutun des Menschen Arten ein, die lichte Flächen schließen und zum jeweiligen Standort und den jeweiligen Verhältnissen passen.

Der Ziegenmelker etwa, „eine hochbedrohte Vogelart“, siedele sich auf solchen offenen Flächen an, während andere Arten infolge des Klimawandels geradezu schlagartig verschwänden. Selbst die Auerhühner, die Thüringenforst gerade erst ausgewildert hat, stellt Görner keine gute Prognose aus. „Ich warne“, sagt der Leiter der Arbeitsgruppe Artenschutz, „deshalb vor Schnellschüssen beim Waldumbau. Ein flächendeckendes Aufforstungsprogramm wäre gar nicht so gut.“

Görner plädiert stattdessen dafür, neben den Arealen, auf denen Waldumbau stattfindet und wieder aufgeforstet wird, immer auch ein paar Flächen frei zu lassen. Ganz abgesehen davon, dass es aus seiner Sicht wenig bringe, jetzt Flächen aufzuforsten, wenn es am Ende nicht wesentlich mehr Niederschläge gibt. Denn dann gingen die jungen Bäumchen gleich wieder ein.

Dazu, so Keller, werde auch im Forstlichen Forschungszentrum in Gotha eifrig geforscht – und dank personeller Verstärkung in Zukunft sogar noch intensiver. Naturverjüngung allein reicht aus ihrer Sicht nicht aus: Denn Holz speichere nicht nur CO2, es sei auch als nachwachsender Rohstoff für die Bauwirtschaft von zunehmender Bedeutung. Das auch vor dem Hintergrund, dass der Abbau von Naturgips immer mehr Gegner auf den Plan ruft, andererseits aber infolge der Energiewende der sogenannte REA-Gips als Kraftwerksnebenprodukt in einigen Jahren nicht mehr verfügbar ist.

Deshalb müsse auch in dem Maße, wie etwa vom Borkenkäfer befallene Fichten aus dem Wald geholt werden, wieder aufgeforstet werden. „Das ist absolut notwendig“, betont die Ministerin. Dazu brauche es jedoch nicht nur zusätzliche Flächen, auf denen vor allem die staatseigene Forstbaumschule in Breitenworbis, aber auch private Baumschulen Setzlinge heranziehen, sondern vor allem auch mehr Leute: Waldarbeiter, die Flächen sichten, Schäden aufnehmen, Bäume fällen und auch neu pflanzen. Keller ist deshalb heilfroh, dass der Mitte August verabschiedete „Aktionsplan Wald 2030ff“ – ein Nothilfeprogramm gegen das Waldsterben – auch dafür die notwendigen Mittel für die nächsten zehn Jahre bereitstellt. Schon jetzt seien zwischen 60 und 80 Waldarbeiter zusätzlich im Einsatz.

Nachdem die Ministerin so viel über den Wald als Wirtschaftsfaktor gesprochen hat, will es TA-Chefredakteur Jan Hollitzer noch einmal genauer wissen: Wie sieht es mit stillgelegten Waldflächen aus – sind nicht gerade sie ein Garant für großen Artenreichtum? Immerhin habe Thüringen das Ziel, mindestens fünf Prozent des Waldes dauerhaft der forstwirtschaftlichen Nutzung zu entziehen, schon erreicht.

Ministerin Keller nickt – und nur ihr angestrengtes Pokerface verrät, dass sie nicht so gern an das Ringen mit dem Grünen-geführten Umweltministerium um die geeigneten Flächen zurückdenkt.

Artenschutzexperte Görner indes muss keine Rücksicht auf Koalitionspartner nehmen und sagt frei von der Leber weg, wovon er zutiefst überzeugt ist: Dass es ein Irrglaube sei anzunehmen, Waldwildnis bedeute automatisch auch Artenreichtum. „Wald, der aus forstwirtschaftlicher und forstökonomischer Sicht optimal bewirtschaftet wird, ist viel artenreicher als Wälder, die sich selbst überlassen sind“, sagt der Experte, der selber Forstingenieur ist. „Die Forstleute können durch ihr Tun, etwa durch das Auslichten, derart eingreifen, dass Arten gefördert werden.“

Außerdem: In einem stillgelegten Wald werde anders als in einem optimal bewirtschafteten Wald CO2 nicht für Jahrzehnte und Jahrhunderte gebunden. Spätestens dann nämlich, wenn die dort gewachsenen Bäume umbrechen und wieder zu Erde werden, werde das Gas wieder freigesetzt. „Insofern hat das keine Funktion.“

30/09/2019-Erfurt: TV-Talk „Am Anger“ veranstaltet von Thueringer Allgemeine, Salve TV und Thueringen24 im Studio von SalveTV mit den Moderatoren Jan Hollitzer (Chefredakteur Thueringer Allgemeine/rechts)) und Sarah Kolling (2. von links).
30/09/2019-Erfurt: TV-Talk „Am Anger“ veranstaltet von Thueringer Allgemeine, Salve TV und Thueringen24 im Studio von SalveTV mit den Moderatoren Jan Hollitzer (Chefredakteur Thueringer Allgemeine/rechts)) und Sarah Kolling (2. von links). © Sascha Fromm

„Aber stillgelegte Wälder haben doch auch ihre schöne Seiten“, wendet Hollitzer ein und verweist auf die Wildkatze, die im Nationalpark Hainich wieder beheimatet ist. Martin Görner reagiert mit einem entschiedenen Nein: „Die Wildkatze braucht keine nichtbewirtschafteten Wälder. Im Gegenteil.“ Dort, wo sie zum Beispiel Strukturelemente wie Holzpolter vorfinde, also auf einem Sammelplatz bereitgelegtes Holz, habe sie viel mehr Versteckmöglichkeiten als in allen anderen Wäldern. Und überhaupt: Die Wildkatze verbringe als Mäusefresser nur einen Teil ihres Lebens im Wald.

Aber warum gibt es dann überhaupt Waldwildnis-Flächen, haken Hollitzer und Co-Moderatorin Sarah Kolling nach. Dafür, antwortet Thüringens oberster Artenschützer, könne nicht einmal das Bundesamt für Naturschutz eine wirklich nachvollziehbare Begründung geben. Görner macht keinen Hehl daraus, dass er die „romantische Vorstellung“, die vor allem die städtische Bevölkerung vom schönen grünen Wald habe, für den Auslöser der ideologisch geführten Debatte darüber hält, dass ein gewisser Prozentsatz Wald aus der Bewirtschaftung herausgenommen werden soll.

„Viele Menschen denken, dass der Wald, wenn niemand eingreift, am ehesten unseren Vorstellungen entspricht“, sagt Görner. Dabei könne man selbst beim tropischen Regenwald heute nicht mehr von Urwald im eigentlichen Sinne sprechen. Man müsse einen Wald schon 500 bis 600 Jahre sich selbst überlassen, ehe er wieder eine Art Urwald werde. Und selbst dann treffe die Bezeichnung Urwald nicht mehr zu: „Denn wir haben nicht mehr die Welt von 1200, von 1500 und von 1800.“

Ministerin Keller findet, dass es Aufgabe der Wissenschaft sein muss, die Frage zu beantworten, ob nun der Wirtschafts- oder aber der stillgelegte Wald mehr Artenreichtum hervorbringt. Sie weiß um die Debatte, kennt beide Positionen. Nach ihrer Kenntnis leben in bewirtschafteten Wäldern bis zu 10.000 Tier- und Pflanzenarten, was doch für einen großen Artenreichtum spricht. „Wir müssen uns“, wird sie zum Abschluss grundsätzlicher, „aber auch die Frage beantworten, welchen Wald wir eigentlich in Zukunft wollen: Wollen wir Wirtschaftswald? Klimawald? Schutz-, Nutz- und Erholungswald? Denn es geht nicht nur um das Anpflanzen von 200 Millionen Bäumen.“