Martin Debes über Tatsachen und Stimmung – und die Oberbürgermeisterwahl in Görlitz.

Die Häuser in Görlitz stehen zu Abertausenden noch so da, wie sie dort vor 100, 200, 300 Jahren standen. Dazwischen gestreut finden sich Theater, Hochschule, Galerien, Kirchen, Restaurants, Geschäfte und schicke Hotels.Wer an einem warmen Sommertag durch diese betörend schöne Stadt an der Neiße flaniert, der glaubt sofort, dass hier Quentin Tarantino, Wes Anderson und Philipp Stölzl Filme drehten – aber nicht, dass hier die AfD beinahe den Posten des Oberbürgermeisters gewonnen hat.

Es gibt immer eine Differenz zwischen dem, was Tatsachen sind, und dem, was die Menschen als Tatsachen empfinden. Die Tatsache, dass gerade einmal zehn Prozent Ausländer in Görlitz leben, von denen wiederum 60 Prozent aus Polen sind, hielt den AfD-Kandidaten Sebastian Wippel nicht davon ab, für alle vorgeblichen Probleme der Stadt, von schmutzigen Wiesen über die Kleinkriminalität bis zu fehlenden Kindergarten-Plätzen, die Flüchtlinge verantwortlich zu machen. Und es hielt 11.390 Görlitzer am Sonntag nicht ab, für ihn zu stimmen. Im Gegenteil: Es animierte sie vielleicht sogar dazu.

Civey - Was ist das?

Octavian Ursu erhielt 2700 Stimmen mehr als AfD-Mann

Ja, Görlitz hat Probleme. Viele Häuser stehen leer, die Arbeitslosigkeit ist im Vergleich zum sächsischen Durchschnitt recht hoch. Auch dass Polen gleich am anderen Ufer der Neiße beginnt, birgt neben vielen Chancen auch einige Risiken.

Und ja, in der Innenstadt sind jetzt nicht nur Touristen und Eingeborene zu sehen, unter die sich so einige schwer tätowierte Männer mit Yakuza-Hemd und Pitbull mischen. Es gibt auch syrische oder afghanische Jugendliche, die auf dem Marienplatz Fußball spielen, und Frauen mit Kopftuch, die ihren Kinderwagen durch die Berliner Straße schieben.

Doch egal, wie man dies betrachten mag: Tatsache bleibt, dass es der Stadt gut geht – und es ihr bald noch besser gehen dürfte. Nicht nur, weil der Ministerpräsident ein Görlitzer ist, hat das Land begonnen, Hunderte Millionen Euro über das Land zu verteilen. Die alte Leuchtturmpolitik, von der vor allem Dresden oder Chemnitz profitierten, gilt längst als überholt.

Aber was sind schon Tatsachen, wenn das Vertrauen einmal dahin ist, aus Gründen, die zu beschreiben an dieser Stelle schon zu oft vergeblich versucht wurde. Nachdem der deutsche Polizeioberkommissar und Landtagsabgeordnete Wippel im ersten Abstimmungsgang mit mehr als 36 Prozent der Stimmen auf Platz 1 gelandet war, kam er in der Stichwahl sogar auf knapp 45 Prozent.

Das Ergebnis reichte nur deshalb nicht, weil Linke und Grüne ihre Kandidatinnen zurückgezogen hatten und – so wie nahezu alle anderen Parteien – den Bewerber von der CDU unterstützten. Nachdem Octavian Ursu im ersten Wahlgang am 26. Mai noch mit deutlichen Abstand hinter Wippel auf dem zweiten Platz gelegen hatte,

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Annette Kramp-Karrenbauer und die Internet-Fettnäpfchen

Was dann passierte, war bizarr. Die spontane Anti-Alternative-Allianz reagierte euphorisch, bis hinauf nach Berlin. CDU, SPD, Linke und Grüne beglückwünschten sich gegenseitig dazu, den ersten AfD-Oberbürgermeister ever verhindert zu haben.

Annette Kramp-Karrenbauer befand sich derart im Überschwang, dass sie (oder ihr Socialmediator) prompt ins nächste Internet-Fettnäpfchen sprang. Die CDU-Vorsitzende, die gerade mit den Koalitionsspitzen im Kanzleramt über Grundsteuer und -rente redete, twitterte stolz, dass ihre Partei „die bürgerliche Kraft gegen die AfD“ sei. Erst als sich die lieben Mitdemokraten von links arg echauffierten, schob sie hinterher, dass es sich „natürlich“ um den „Sieg eines breiten Bündnisses“ gehandelt habe.

Ein Sieg? Nun ja. Tatsache ist, dass die AfD die Europawahl in Sachsen und großen Teilen Ostdeutschlands gewonnen hat. Tatsache ist, dass sie in vielen Stadträten und Kreistagen wie etwa in Görlitz, aber auch in Gera, die stärkste Fraktion stellt. Und Tatsache ist, dass sie sich gerade in den Landtagswahlumfragen in Sachsen und Brandenburg nach ganz vorne geschoben hat. In Thüringen hält wohl nur der leibhaftige Björn Höcke noch einige wahlberechtigte Menschen davon ab, den inneren AfD-Ankreuzer herauszulassen.

Was nun? Die Parteien habe es mit vielem probiert, mit Fördergeld und Festivitäten, mit Zuhörveranstaltungen und Dialogmobilen, mit Nazi-Vergleichen und Belehrungen.

Nur, und das wird von einigen Beteiligten durchaus reflektiert: Mit politischem Handeln auf Basis von Tatsachen haben sie es bislang noch zu selten versucht.