Martin Debes über die Thüringer Ministerpräsidentenwahl.

Ja, es gibt sie noch, die Wundertüte. Im Internet finden sich allerlei Angebote, in verschiedenen Preislagen, sogar für Erwachsene. Natürlich braucht so eine Tüte niemand, aber ihr dezenter Charme ist zumindest teilweise nachvollziehbar: Gerade weil man ja nicht wirklich weiß, was sich darin befindet, will man sie haben.

Über die thüringische Landespolitik, die politische Wundertüte der Republik, lässt sich das nicht unbedingt behaupten. Das schon längst nicht mehr geneigte Publikum erwartet mit einer unguten Mischung aus Ratlosigkeit und Frust die Öffnung des kunterbunten Behältnisses, aus dem, das ist jedenfalls die zarte Hoffnung, ein wie auch immer gefärbter Ministerpräsident springen soll.

Selbst die Beteiligten des obskuren Vorgangs, also die Parteifunktionäre, Minister und Abgeordnete, wissen nicht, was am Mittwoch im Parlament passieren wird. Vor allem der dritte Wahlgang gilt als Rätsel, für das nicht nur unstudierte Politiker, sondern auch habilitierte Rechtsprofessoren keine konsensfähige Lösung besitzen.

Vielleicht ist es gut, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, was in diesem Land überhaupt noch als halbwegs sicher gilt. Als gewiss erscheint zum Beispiel, dass sich der Landtag am Mittwoch um 11 Uhr zur Sondersitzung versammelt und dass ausnahmsweise alle 90 Abgeordneten erscheinen.

Dann wird der Tagesordnungspunkt 1 aufgerufen, die „Wahl des Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen“. Es gibt zwei Vorschläge, die fristgemäß bis Montag, 11 Uhr, bei der Landtagspräsidentin eingereicht wurden.

Der eine Bewerber, das war nicht anders zu erwarten, ist der geschäftsführende Regierungschef Bodo Ramelow von der Linken. Unterstützt wird er von seiner Fraktion, der SPD und den Grünen, wobei auch ansonsten alles seine Ordnung hat: Ein Koalitionsvertrag nebst Ressortverteilung ist von den Landesparteien abgenickt.

Es gibt nur ein kleines, klitzekleines Problem. Oder genauer: Es gibt vier. Vier Abgeordnete fehlen zur Mehrheit von 46 Stimmen. Denn da – jetzt bitte aufpassen – die CDU und FDP zwar gerne mit SPD und Grünen regieren würden, aber keinesfalls mit der Linken, SPD und Grüne wiederum nicht mit CDU und FDP koalieren möchten, soll nun eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung gebildet werden. Alles klar soweit?

Denn erst jetzt wird ja die Wahl zur Wundertüte. Es gibt einen zweiten Kandidaten. Er heißt, das war so eher weniger zu erwarten, Christoph Kindervater und ist Bürgermeister des kleinen, ziemlich armen Dorfes Sundhausen, in dem laut Landesamt für Statistik 354 Menschen wohnen. Er gehört keiner Partei an, kandidierte erfolglos für die CDU für den Kreistag und findet, dass es, oh Wunder, eine schöne und sogar ziemlich solide Mehrheit gegen Ramelow gibt. Man müsse sie, hallo!, nur nutzen.

Rein rechnerisch hat der Bürgermeister ja recht. In den Fraktionen von AfD, CDU, FDP sitzen insgesamt 48 Abgeordnete, das sind, wenn Sie jetzt bitte alle mitgerechnet haben, sogar zwei mehr, als für eine absolute Mehrheit nötig sind.

Aber aus Gründen, die der Mann aus Sundhausen ganz und gar nicht verstehen kann, finden CDU und FDP, dass mit dem Rechtsextremisten Björn Höcke und seiner AfD-Fraktion kein Freistaat zu machen ist. Die beiden Parteien sind damit die Erfinder dieser ganz speziellen Wundertüte: Denn sie sorgen wohl dafür, dass es keine absolute Mehrheit in den beiden Wahlgängen gibt.

Aber Thüringen wäre nicht so wunderbar, wie es unbestreitbar ist, gäbe es nicht noch den dritten Wahlgang, in dem, Achtung: „die meisten Stimmen“ zählen. Bei mehreren Kandidaten ist die Sachlage klar: Dann hat, klar, der Kandidat mit den meisten Stimmen gewonnen. Aber was ist, wenn nur Ramelow antritt, und alle anderen kneifen? Ist er dann auch mit mehr Nein- als Ja-Stimmen gewählt. Tja.

Aber wahrscheinlich ist das nicht. Wahrscheinlich ist, dass Kindervater im dritten Wahlgang antritt – oder vielleicht ein anderer AfD-Kandidat, denn jetzt sind Spontanbewerbungen möglich. Für diesen Fall hat die FDP vor, ihren Chefcowboy Thomas Kemmerich mitten hinein ins Wunderland zu schicken. Und auch CDU-Vorsteher Mike Mohring, alles andere würde uns wundern, hält sich wieder einmal alles offen.

Als Ergebnis dieses Szenarios dürfte die Wahl Ramelows eingetütet sein. Aber vielleicht ist es auch so, dass Thüringen am Mittwoch sein blaues Wunder erlebt.