Erfurt. Heute vor genau 100 Jahren: Mdachi bin Sharifu spricht im Erfurter Kaisersaal über „Unsere koloniale Vergangenheit“

Im Juli 2019 enthüllten Mitglieder der Initiative Berlin Postkolonial gemeinsam mit dem Berliner Kultursenator Klaus Lederer vor der Wilhelmstr. 62, dem Sitz des ehemaligen Reichskolonialamtes, eine Gedenktafel. Diese erinnert an eine Petition, die der Berliner U-Bahn-Zugführer Martin Dibobe zusammen mit 17 afrodeutschen Mitstreitern im Juni 1919 bei der Weimarer Nationalversammlung einreichte und durch 32 Forderungen an das Reichskolonialministerium ergänzte.

Die beiden als „Dibobe-Petition“ bekannten Texte, die kurz vor Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages verfasst wurden, sind ein Meilenstein des afrodeutschen Aktivismus. Sie plädieren für einen Verbleib der Kolonien im Deutschen Reich und „geloben der sozialen Republik unverbrüchliche Treue“ – allerdings nur „unter Vorbehalt“. Als „Bedingung“ werden „Selbständigkeit und Gleichberechtigung“ gefordert, eine Legalisierung sog. „Mischehen“ sowie in den Kolonien Rechtsstaatlichkeit, die Abschaffung von Prügelstrafe und Zwangsarbeit, höhere Löhne und bessere Bildungsmöglichkeiten. „Wir verlangen, da wir Deutsche sind, eine Gleichstellung mit denselben, denn im öffentlichen Verkehr werden wir stets als Ausländer bezeichnet.“ Dazu gehört auch die politische Repräsentation durch einen eigenen Reichstagsabgeordneten, wofür Martin Dibobe vorgeschlagen wurde.

Einer der Unterzeichner der Petition, aus der die Reichsregierung ein vorbehaltloses Bekenntnis zu Deutschland machte, war der Kiswahili-Lehrer Mdachi („der Deutsche“) bin Sharifu. Geboren 1885 in der Nähe von Tanga im heutigen Tansania, unterrichtete er ab 1913 am Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin. Als die Mythenbildung von der guten deutschen Kolonialmacht auf Hochtouren lief (das Deutsche Reich hatte im Vertrag von Versailles seine Kolonien mit der Begründung abgeben müssen, es habe sich als unfähig zur Kolonisation erwiesen), begab sich Sharifu im Spätsommer 1919 auf eine vom pazifistischen Bund Neues Vaterland organisierte Vortragsreise, um über „Unsere koloniale Vergangenheit“ zu sprechen.

Die Vortragsreise, deren inklusiver Titel bereits eine Provokation war, führte Sharifu am 21. September 1919 nach Erfurt in den Kaisersaal. Während seine Ko-Redner in Berlin und Cottbus die prominenten Pazifisten Hans Paasche und Hellmut von Gerlach waren, trat er in Erfurt mit dem „Afrikaforscher“ T. von Eckenbrecher auf (sehr wahrscheinlich der Landschaftsmaler und ehemalige Kolonialsoldat Gustav Heinrich Themistokles von Eckenbrecher). Anders als in Berlin und Cottbus scheint der Vortrag in Erfurt auch eher schlecht besucht gewesen zu sein.

Sehr unterschiedliche Berichterstattung

Die Berichterstattung der beiden damaligen Erfurter Tageszeitungen, der links-sozialdemokratischen Tribüne und der deutschnationalen Thüringer Allgemeinen Zeitung, fiel sehr unterschiedlich aus. Die Tribüne berichtete wohlwollend. „In einem überraschend guten Vortrage“, heißt es mit paternalistischem Einschlag, habe Sharifu seinem Publikum „Kunde von der oft recht unmenschlichen Behandlung“ gegeben, „die die Eingeborenen Deutsch-Ostafrikas von den deutschen Beamten und weißen Kolonisten erfahren haben.“ Erwähnt werden Übel wie die Prügelstrafe, Hungerlöhne und Zwangsarbeit, deren Beseitigung bereits die Dibobe-Petition gefordert hatte. Interessant ist an der Berichterstattung der Tribüne vor allem, dass sie bis in den Wortlaut hinein derjenigen der links-sozialdemokratischen Blätter aus Berlin und Cottbus gleicht. „Die Ausführungen der Redner riefen Stürme der Entrüstung gegen das Walten des preußischen Verwaltungsgeistes in unseren Kolonien bei den Zuhörern hervor.“ Für das sozialdemokratisch-pazifistische Milieu hatte Sharifus Kritik des Kolonialismus offenbar vor allem die Funktion, die Unhaltbarkeit des preußischen Obrigkeitsstaates zu belegen.

Dagegen zeigte sich die Thüringer Allgemeine Zeitung empört über die „Anwürfe des Schwarzen gegen die Weißen, und insbesondere gegen uns Deutsche“. Sharifu, von dem durchgängig und gehässig in Kollektivbezeichnungen (mehrfach auch dem N*-Wort) die Rede ist, habe den Deutschen „jede koloniale Fähigkeit“ abgesprochen; er habe „freie Bahn dem Tüchtigen“ (Bethmann-Hollwegs Slogan für meritokratische Chancengleichheit) und das Selbstbestimmungsrecht der Völker „auch für den schwarzen Mann“ gefordert. „In der anschließenden Aussprache traten zum Glück und mit Erfolg mehrere Redner warm für unser Deutschtum ein.“ Die Parallelen zur rassistischen Erinnerungsabwehr der Gegenwart sind so offenkundig wie verstörend.