Erfurt. Im Zuge der Decolonize-Debatte schreibt Steffen Raßloff über den Umgang mit Straßennamen und Geschichte

Emotional wird derzeit über die Frage gestritten, ob das Nettelbeckufer wegen der kolonialistischen Vergangenheit des Namensgebers Joachim Nettelbeck umbenannt werden soll.

Der Historiker Steffen Raßloff äußerte von Anfang an Skepsis und widmet sich unter der Frage „Wissenschaft als Wiedergutmachungsprojekt?“ noch einmal der Benennung und Umbenennung von Straßen und Nettelbeck. Raßloff ist Mitglied der Straßennamenkommission der Stadt und steuerte als Autor das Kapitel zum Kolonialismus in der „Deutschen Geschichte“ des Dorling Kindersley Verlages bei.

Hier ist Steffen Raßloffs Beitrag:

Das Nettelbeckufer soll umbenannt werden, so fordert es der Verein Decolonize Erfurt. Gerne beruft er sich auf die jüngsten Proteste und Denkmalstürze weltweit. Das gebe der Suche nach Spuren von Rassismus und Kolonialismus weiter Auftrieb. Joachim Nettelbeck, der „Retter von Kolberg“ gegen Napoleons Truppen 1807, soll dabei als Akt „symbolischer Gerechtigkeit“ aus dem Stadtbild verschwinden. Ein Gutachten arbeitet seine Tätigkeit als Seemann auf Sklavenschiffen und seine Kolonialvorschläge auf.

Auch die Instrumentalisierung durch das Dritte Reich macht man ihm posthum zum Vorwurf. Das Gutachten wirkt wie eine antirassistische Anklageschrift. Hier erscheint „Wissenschaft als Wiedergutmachungsprojekt“, wie es die Philosophin Maria-Sibylla Lotter, Professorin in Bochum, formuliert hat. Sie bezweifelt, dass das der richtige Umgang mit Geschichte ist.

Manchmal tut es deshalb gut, sich der Gründerväter der Geschichtswissenschaft zu erinnern. So forderte Leopold von Ranke, der Historiker habe objektiv aufzuzeigen, „wie es eigentlich gewesen“ ist. Dabei stehe jede Epoche „unmittelbar zu Gott“, sprich: alles ist mit Blick auf die Wertmuster seiner Zeit zu interpretieren. Bei allen Einwänden gegen diese Maximen des 19. Jahrhunderts stehen Objektivität und Berücksichtigung des Zeitgeistes dem Historiker noch immer gut zu Gesichte. So könnte man anführen, dass das rassistische Weltbild Nettelbecks, der sich übrigens in seinen Memoiren selbstkritisch über den Sklavenhandel äußerte, seinerzeit nichts Ungewöhnliches war. Auch der linke Übervater Karl Marx macht da keine Ausnahme. Er beschimpfte seinen Gegenspieler Ferdinand Lassalle als „jüdischen Nigger“ und seinen halbkubanischen Schwiegersohn Paul Lafargue als „Negrillo“ und „Abkömmling eines Gorillas“.

Zu objektiver Beurteilung einer historischen Person gehört es auch, diese von späterer Instrumentalisierung deutlich zu trennen. Es ist genauso anachronistisch, Nettelbeck den Missbrauch durch die Goebbels-Propaganda vorzuwerfen, wie Marx die Millionen von Menschenleben, die die politische Umsetzung seiner Philosophie gekostet hat.

Sollte man in diesem Sinne nicht besser das Nettelbeckufer ebenso wie den Karl-Marx-Platz als kritischen Denkanstoß belassen, anstatt es gegen den Willen der Anwohner umzubenennen? Man kann die Zweifel von Lotter teilen, ob „die aggressive Durchsetzung eines neuen Knigge des Antirassismus“ wirklich rassistische Vorurteile in unserer Gesellschaft beseitigt. Die Umbenennungsaktivisten gehen zudem auch in Erfurt mit selbstgewisser Vehemenz vor, wobei das Nettelbeckufer nur der Anfang scheint. Schon rückt die Mohrengasse ins Visier, obwohl diese nichts mit modernem Rassismus zu tun hat.

Hier zeigt sich fehlender „Willen zum differenzierten Wissen“, den Peter Hoeres bei vielen dieser Initiativen ausgemacht hat. Nicht nur der Professor für Neueste Geschichte der Universität Würzburg fragt sich, wo wir gerade leben: „Am Ende der Diktatur des weißen Mannes oder am Beginn der Diktatur der Identitätspolitik von Minderheiten?“