Gotha. Seit 50 Jahren ist Rosemarie Barthel als Archivarin in Gotha tätig. Ihr Ruhestand bedeutet für sie nicht das Ende ihres Engagements

Eine kauzige Persönlichkeit, die bei schummrigem Licht zwischen hohen Aktenbergen über verstaubten Dokumenten kauert: Dieser klischeehaften Vorstellung des Archivars entspricht Rosemarie Barthel ganz und gar nicht.

Die aufgeschlossene Fried-richrodaerin mit dem freundlichen Lächeln geht ihrer Arbeit im Staatsarchiv Gotha seit 50 Jahren mit Begeisterung nach – von Langeweile oder staubiger Tristesse keine Spur.

„Natürlich hätten sich meine Eltern etwas anderes gewünscht“, gibt sie zu bedenken. „Aber ich habe mich überhaupt nicht dazu hingezogen gefühlt, im Geschäft meines Vaters, der Glasermeister war, mitzuarbeiten.“ Stattdessen entschied sie sich 1969 nach Abschluss der zehnten Klasse für die Ausbildung zur Archivarin in Gotha.

Von Anfang an fühlte sich Rosemarie Barthel wohl im Archiv: „Es ist wie mein zweites Zuhause“, sagt sie lächelnd. Ihre langjährige Hauptaufgabe war die Benutzerbetreuung: „Es gibt nichts, was nicht gefragt wird. Unsere Quellen sind unerschöpflich. Dadurch lernt man auch als Archivarin ständig dazu. “ Sie organisiert zudem Ausstellungen, arbeitet mit Schulen zusammen und betreut Seminarfacharbeiten zu historischen Themen.

Die reguläre Archivarbeit ist jedoch nicht das einzige Interessengebiet der 1953 geborenen Friedrichrodaerin . Ihr Steckenpferd ist die Erforschung der Geschichte des Gothaer Herzoghauses. Besondere Beachtung schenkt sie Prinzessin Luise von Sachsen-Gotha-Altenburg: „Ihr Leben ist an Dramatik kaum zu überbieten.“ 1817 heiratete die damals 16-Jährige den doppelt so alten Herzog Ernst III. von Sachsen-Coburg-Saalfeld, der mit der Beziehung vor allem machtpolitische Vorteile verband. „Nach der Geburt ihrer beiden Söhne kam die Ernüchterung“, resümiert Barthel. „Sie muss sehr unglücklich gewesen sein und ließ sich auf einige galante Flirts ein. Ob sie wirklich Ehebruch begangen hat, ist bis heute nicht bewiesen.“ Dennoch kam es 1824 zum Bruch zwischen den beiden. „Ihre Kinder durfte sie ab diesem Zeitpunkt nicht mehr sehen. Mit 30 Jahren starb sie an Gebärmutterhalskrebs in Paris.“

Zum Leben Luises, das gern auch mit dem Werdegang der englischen Prinzessin Lady Diana verglichen wird, veröffentlichte Barthel 2009 eine Quellensammlung. „Plötzlich rief Ulrike Grunewald vom ZDF an“, erinnert sie sich. „Ich dachte erst, das sei ein Witz, aber sie zitierte mein Buch in ihrer Doktorarbeit und wollte mich persönlich kennenlernen.“ Seitdem verbinde die beiden Frauen eine enge Freundschaft.

Zehn Mitarbeiter sind derzeit im Staatsarchiv Gotha tätig. Barthel schätze besonders das kameradschaftliche Verhältnis. Seit dem Umzug der Einrichtung aus dem Westturm Schloss Friedensteins ins Perthesforum im Jahr 2015 freuen sich die Archivare über moderne Büros in großen, hellen Räumen: „Im Schloss haben wir es nicht so bequem gehabt“, sagt Barthel lachend. Dennoch habe sie es als Privileg empfunden, im Schloss Friedenstein arbeiten zu dürfen.

Im Lauf der Jahre habe die Archivarin ihre Arbeitsstelle in Gotha immer wieder neu schätzen gelernt: „Hier lagert ein riesiger Komplex an geballter Thüringer Geschichte. Unser Archiv ist einfach großartig, und ich lade jeden Interessierten ein, vorbei zu kommen. Es ist ja alles kein Hexenwerk.“

Etwas traurig sei sie darüber, dass Gotha zwischen Weimar, Erfurt und Eisenach ihres Empfindens nach schon immer eine untergeordnete Rolle spielte: „Gothas Einfluss auf die Geschichte Thüringens, aber auch Europas, ist leider nie wirklich zum Tragen gekommen.“

In den letzten Jahrzehnten hat das Archivwesen zahlreiche Modernisierungsprozesse erfahren, unter anderem die zunehmende Digitalisierung von historischem wie auch modernem Archivgut. Barthel betrachtet diese Entwicklung mit einem weinenden und einem lachenden Auge: „Es ist toll, dass die Akten dadurch für immer mehr Menschen zugänglich werden. Doch über die Haltbarkeit mache ich mir Sorgen. Es ist nicht klar, welche Lebensdauer die modernen Datenträger wirklich haben. Ich habe Angst, dass von unserer Zeit nur ein großes schwarzes Loch übrig bleibt.“

Nach 50 Dienstjahren mit einem unermesslichen Erfahrungsschatz verabschiedet sich Rosemarie Barthel nun in den Ruhestand. Archivdirektor Lutz Schilling bedauert diesen Verlust: „Sie war am Benutzertresen das Aushängeschild unseres Archivs. Ihre moderate, ausgeglichene Art hat sowohl auf die Benutzer als auch auf die Kollegen abgefärbt.“

Der Ruhestand soll jedoch nicht das Ende ihres Engagements bedeuten. Rosemarie Barthel will sich nun intensiver der historischen Forschung widmen, erklärt sie. Mit Freude blickt sie in die Vergangenheit, aber auch die Zukunft: „Wenn man etwas so lange und gern macht, kann es nicht falsch gewesen sein.“